: Auf Moskaus Märkten wird es leer
Immigranten aus ehemaligen Sowjetrepubliken sollen bis Jahresende nicht mehr Handel treiben. Mit einem neuen Gesetz soll die Zuwanderung eingeschränkt werden
MOSKAU taz ■ Ali sitzt neben den polierten Pyramiden von roten und gelben Paprikas, Tomaten und exotischen Südfrüchten und zieht gelangweilt an einer Zigarette. Kunden machen sich auf dem Tscherjomuschki-Markt heute rar. Seit drei Jahren handelt der 30-jährige Aseri aus Nachitschewan schon auf Moskaus Märkten. Hat er Pech, muss der junge Familienvater im April den Arbeitsplatz, vielleicht sogar Russland verlassen.
Ein neues Gesetz sieht vor, dass Immigranten aus ehemaligen Sowjetrepubliken weder auf Märkten noch an Verkaufsstellen im Freien Handel treiben dürfen. Bis April gilt eine Übergangsregelung: 40 Prozent der Händler mit ausländischem Hintergrund werden noch geduldet. Verbannt sind sie seit Anfang der Woche bereits aus dem Geschäft mit Alkohol und Arzneimitteln.
Nach ethnischen Unruhen in der russischen Provinz, die sich gegen Immigranten aus der GUS und russische Bürger aus dem Kaukasus richteten, sowie einem irrationalen Zwist mit dem Nachbarn Georgien verordnete der Kreml im Herbst Gegenmaßnahmen. Den „Schwarzen“, Südländern mit dunklem Teint im russischen Volksmund, wird vorgeworfen, den Handel vornehmlich unter sich aufzuteilen und „slawischen“ Bürgern den Zugang zu verweigern. Mit der Forderung, der „Stammbevölkerung“ in den Regionen seien die Märkte wieder zu öffnen, trat Präsident Putin an die Öffentlichkeit. Freilich ohne zu klären, wer zur angestammten Bevölkerung zählt und ob auch russische Staatsbürger aus dem Süden darunter fallen. Der Kreml reagierte mit Populismus als Ersatzpolitik, konnte sich einer Mehrheit der Untertanen aber sicher sein. Nationalismus und Rassismus sind in Russland längst hoffähig.
Ali sieht es dennoch gelassen. „Russland ist Russland“, sagt er. Nichts werde so heiß gegessen wie gekocht. Immer fände sich ein Ausweg. Die Empfänglichkeit der Bürokratie für Zuwendungen außer der Reihe erleichtere die Planung. So locker nahmen viele Kollegen aus dem Kaukasus die Ankündigung des Kremls im Herbst indes nicht. Neben Alis Obstpyramiden herrscht gähnende Leere. Verwaiste graue Verkaufsflächen hinter ihm symbolisieren Russlands end- und gesichtslose Weiten. Einst war der Tscherjomuschki-Markt ein lebendiger Ort, eine Versinnbildlichung des russischen Eurasiens, auch ein Rudiment nicht völlig fehlgeschlagener Kolonialgeschichte.
Der Zählmeister des überdachten Marktes hat bei Ali noch nicht vorbeigeschaut. Ein zweiköpfiges Team prüft gerade im Nebengebäude die Verkäufer auf deren nationale Herkunft. Schließlich will die Norm von 40 Prozent eingehalten werden. Händlerinnen aus der Ukraine und Moldawien reagieren besonders gereizt und geben nur widerwillig Auskunft. Sie sprechen aber besser Russisch und sind keine „Schwarzen“. Das lässt sie ein bisschen mehr auftrumpfen und auch sie wissen: Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen.
Für Ukrainer bedeutet die neue Regelung unterdessen die weitestreichenden Verschärfungen. Denn mit dem Handelsverbot trat auch ein neues Immigrationsgesetz in Kraft. Es soll die unkontrollierte Zuwanderung kanalisieren, die Lage der Arbeitsimmigranten aber legalisieren und erleichtern. Statt der umständlichen früheren Prozeduren müssen Arbeitswillige neuerdings nur noch einige Papiere beim Föderalen Migrationsdienst auf dem Postweg einreichen. Nach 10 Tagen erhalten sie dann automatisch die Arbeitserlaubnis. So will es zumindest das Gesetz. Ukrainer konnten sich bislang ohne jegliche Formalitäten 90 Tage in Russland aufhalten und arbeiten. Auch sie müssen sich dem Verfahren jetzt unterziehen.
Nach Schätzungen arbeiten in Russland 10 bis 12 Millionen Immigranten. Mit dem Gesetz soll ihre Zahl auf 6 Millionen runtergeschraubt werden. Ein riesiger Fehler, meint der unabhängige Duma-Abgeordnete Wladimir Ryschkow. Jeder sechste Arbeitnehmer im Land hätte bereits Migrationshintergrund. Quotenregelung spiele nur der Korruption in die Hände.
Die „angestammte“ Bevölkerung hat die seit Herbst frei gewordenen Stellen noch nicht wieder besetzt. Nur wenige Russen handeln mit Südfrüchten und sind bereit, sich für Niedriglohn Kälte und Wind auszusetzen. Auch im Fernen Osten tauchten zunächst chinesische und vietnamesische Händler ab, meldete die Nowyje Iswestija. Der Preis für chinesische Strümpfe stieg bei einheimischen Händlern indes auf das Doppelte. KLAUS-HELGE DONATH