: „Du bist immer allein“
Andreas Thiel, als Handballtorwart legendär, trainiert die Keeper des Nationalteams. Der 45-Jährige macht sich vorm heutigen WM-Beginn Gedanken über seinen Sport und die Seele eines Ballfängers
INTERVIEW HOLGER PAULERUND BENJAMIN WASSEN
taz: Herr Thiel, 1982 standen Sie bei der Handball-WM in Deutschland im Tor. Wie denkt der „Hexer“ über das Turnier?
Andreas Thiel: Meine Leistungen bei dem Turnier haben mit Sicherheit nicht dazu beigetragen, dass ich den Kriegsnamen „Hexer“ bekommen habe. Das war erst später der Fall. Meine Bilanz und die des Teams waren durchwachsen.
Woran lag es?
Ich hatte meine Nerven nicht wirklich im Griff. Ich war erst 21 – und dann noch die WM im eigenen Land. In der Rückschau war es aber dennoch ein wichtiges Ereignis. Danach konnte ich mit dem Druck besser umgehen.
Der Druck war doch nicht neu für Sie. Immerhin waren Sie mit dem VfL Gummersbach damals national wie international sehr erfolgreich.
Das Medieninteresse während der WM war im Vergleich zur Bundesliga um ein Vielfaches höher. Mich hat das enorm belastet, vor 14.000 in der Westfalenhalle und zig Millionen an den Bildschirmen zu spielen. Außerdem war Klaus Wöller der bessere Torhüter. Das haben damals alles gewusst, nur unser Trainer Vlado Stenzel nicht.
Diskussionen gibt es auch um Henning Fritz. Beim THW Kiel ist er nur noch die Nummer drei, in der Nationalmannschaft ist er gesetzt. Was sagt der Torwarttrainer dazu?
Im vergangenen Jahr hatte er bereits eine ähnliche Situation zu überstehen. Da kam er todunglücklich zur Nationalmannschaft und hat dann zwei überragende Länderspiele angeliefert. Er ist international eine absolute Rakete. Europameister, Vizeweltmeister und Olympiazweiter und Welthandballer des Jahres – als erster Torhüter. Er hat unser absolutes Vertrauen.
Haben die Torhüter besonderen Respekt vor Ihnen?
Ich glaube, das ist denen egal. Das sind Weltklasseleute. Es gibt einen Spruch: Torhüter glauben nur Torhütern und die richtig guten glauben nur sich selbst.
Wenn die Torhüter Ihnen nicht mehr glauben, haben Sie ihr Ziel erreicht?
Ich glaube jedenfalls, dass ich die Torhüterseelen gut verstehen kann. Und darüber kann ich immer etwas erreichen. Auch bei guten Torhütern.
Wie sieht die Seele aus?
Torhüter sind immer allein. Du musst alles alleine lösen, was zu gewissen autistischen Zügen führen kann. Das kann zu Jähzorn und Wutausbrüchen führen. Mit der Situation geht jeder anders um. Das Gefühl für bestimmte Spielsituationen kann man trainieren.
Können Sie uns erklären, warum sich jemand in einen kleinen Kasten stellt, um sich aus wenigen Metern abschießen zu lassen?
Ins Tor stellen sich diejenigen, die Spaß daran haben, den Spielgedanken zu zerstören. Das kann man von mehreren Standpunkten aus betrachten. Sind wir die System-Kritiker oder sind wir einfach nicht kreativ genug, am Spiel teilzunehmen? Andererseits braucht es im Tor auch viel Kreativität. Nur mit Reagieren hält man kaum einen Ball. Torwart in jeder Sportart ist die Zwitterstellung.
Würden Sie mit den Spielern heute tauschen wollen?
Früher haben wir in Sportschulen trainiert und nicht in schicken Hotels. Da war das Training kein wirklicher Genuss. Da haben es die Spieler heute schon einfacher. Damals mussten wir dafür sorgen, dass wir nach der Karriere auch noch einen ordentlichen Beruf ausüben. Wir haben zwar Geld verdient und konnten davon leben, aber es reichte auf Dauer nicht. Während meines Examens habe ich nur einmal die Woche beim VfL Gummersbach trainiert, aber das wurde akzeptiert, weil alle wussten: Irgendwann sind die Jungs fertig und dann steigen sie wieder voll ein. Heute zahlen die Vereine 10.000 Euro netto im Monat oder mehr.
Kein bisschen neidisch?
Einen gewissen Neidfaktor, was die Höhe der Kohle angeht, kann ich nicht leugnen. Mit dem reinen Vollprofidasein, mit der Eindimensionalität des Profilebens, habe ich allerdings ein Problem. Und dann denke ich: So wie es bei mir gelaufen ist, war es gut. Wenn ich eine Klausur vergeigt hatte, konnte ich am Wochenende beim Spiel wieder 16 Bälle abwehren und alles war okay – und andersrum.
Haben sich denn die großen Arenen als Handballhallen schon etabliert? Immerhin trägt der VfL Gummersbach einen Großteil seiner Spiele in Köln aus.
Der Eventcharakter ist nicht mein Ding. Richtig Stimmung kommt da nur auf, wenn der VfL mit fünf Toren führt. Dabei bräuchte das Team die Unterstützung, wenn es zurückliegt.
Vielleicht erinnern sich die Handball-Fans in den nächsten Tagen an die Euphorie während der Fußball-WM.
Die Dimension ist nicht vergleichbar. Die Hallen werden voll sein. Unseren Stamm hatten wir ja auch immer. Mal sehen, wie viele Sensationstouristen dabei sind. Der Erfolg der deutschen Teams wird die Stimmung letztendlich prägen.
Und wie wird die Stimmung?
Gut. Ich glaube, dass das Viertelfinale in Köln sicher ist. Die 60, 70 oder 80 Minuten gegen Russland, Dänemark, Kroatien oder Spanien entscheiden über den Erfolg der WM. Danach geht es entweder um die Medaillen oder nach Hause.
Der Hallenhandball hat sich mittlerweile von den Dörfern in die Städte verlagert. Hat das der Sportart gut getan?
Vorsichtig gesagt: Es war familiärer. Gegen den Vorwurf der Dorftrottelsportart wehre ich mich aber (lacht). Klar haben wir in den kleinen Schulsporthallen gespielt – vor 2.000 Zuschauern oder weniger. Und natürlich waren wir froh, wenn es dann in die Westfalenhalle ging. Zumal man dort auch die Beschimpfungen der Zuschauer nicht gehört hat. Vielleicht war es die Rettung des Handballs, in die Städte zu gehen. Viele Traditionsklubs mussten Konkurs anmelden. Die Vereine hatten sich übernommen. Die explodierenden Personalkosten konnten nicht mehr gedeckt werden. Sponsoren- und Fernsehgelder stiegen erst mit den größeren Kapazitäten. Ich habe nur ein Problem mit dem Super-Event: Ein gutes Handballspiel ist nicht von der Hallengröße abhängig.
Ihr Heimatklub Gummersbach hat den Trend verstärkt.
Anfangs gab es Proteste gegen den Umzug nach Köln, aber es war notwendig, um den Verein zu retten. In der Arena kommen regelmäßig mehr als 10.000 Besucher, die Halle in Gummersbach mit ihren 2.000 Plätzen ist dagegen nie voll.
Fehlt die Anbindung der Einwohner?
In der ersten Sieben steht kein Deutscher. Das ist die Entwicklung. Auch in der Nationalmannschaft. Ein damaliger Kollege hat mal zu mir gesagt, als die Einbürgerung von Bogdan Wenta anstand: Lieber Siebter werden, als mit eingebürgerten Spielern eine Medaille holen. Der Haltung konnte ich damals etwas abgewinnen. Aber das waren andere Zeiten. Heute sehe ich die Sache pragmatischer. Sportlich wie politisch.
Wenn Andrej Klimowets oder Oleg Velyky den entscheidenden Treffer zum WM-Titel werfen, jubeln Sie mit?
Natürlich. Und Millionen andere hoffentlich auch.