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Archiv-Artikel

Berlusconi ist nicht immer schuld

Der Turiner Historiker Gian Enrico Rusconi erzählt die spannende Geschichte der politischen Missverständnisse und Missstimmungen zwischen Deutschland und Italien

Es war alles nur ein großes Missverständnis. Millionen von Deutschen fuhren in den Nachkriegsjahrzehnten nach Italien, wo sie anders als in den meisten übrigen europäischen Ländern mit offenen Armen empfangen wurden. Schließlich hatten die Italiener, so dachten die Teutonen bei der Reise an die Adria, ja auch ihren Mussolini gehabt. Dabei entsprang das Wohlwollen, mit dem die Italiener nach 1945 die deutsche Gefühlsduselei erwiderten, einem „reinen Nützlichkeitsdenken“, wie der Turiner Historiker Gian Enrico Rusconi in treffender Verkehrung nationaler Klischees bemerkt.

In seinem neuen Buch über die „Geschichte einer schwierigen Beziehung von Bismarck bis zu Berlusconi“ beschreibt Rusconi die deutsch-italienischen Beziehungen seit der nationalen Einigung im 19. Jahrhundert als eine Kette gegenseitiger Missverständnisse und Vorwürfe. Dabei wäre es ohne den 1860 gegründeten italienischen Nationalstaat womöglich gar nicht zur deutschen Einigung von 1871 gekommen. Auch das gehört zu den Entdeckungen dieses ganz aus den Quellen geschriebenen Buches. Jedenfalls machte der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck die Entscheidung zum Feldzug gegen Österreich 1866 von der italienischen Kriegsteilnahme abhängig.

Schon diese erste gemeinsame Militäroperation führte prompt zur ersten Verstimmung: Die Italiener machten den angeblich überstürzten Friedensschluss Bismarcks dafür verantwortlich, dass ihre eigene Offensive gegen die Donaumonarchie in einem Debakel endete. So ging es in der Geschichte der wechselseitigen Beziehungen ohne Unterbrechung weiter. Auf formelle Bündnisse und wechselseitige Freundschaftsbezeugungen folgten stets tiefe Zerwürfnisse und wechselseitige Verratsvorwürfe.

Als Deutsche und Österreicher 1914 ohne Konsultation der Italiener den Ersten Weltkrieg eröffneten, hielt sich der düpierte Bündnispartner zunächst fern und trat ein Jahr später auf die gegnerische Seite über. Seither kursierte in Deutschland das Wort vom italienischen „Verrat“ – ein Deutungsmuster, auf das die Deutschen im Zweiten Weltkrieg zurückgreifen sollten.

Südlich der Alpen gelang am 25. Juli 1943, was in Deutschland ein Jahr später scheitern sollte: die Absetzung des Diktators. Goebbels sprach von der „größten Treulosigkeit der modernen Geschichte“. Die Deutschen reagierten auf ihre Art. Während der neue italienische Ministerpräsident Pietro Badoglio noch mit den Alliierten über einen Waffenstillstand verhandelte, überzogen sie die nördliche Hälfte des Landes mit einem brutalen Besatzungsregime.

Ist über diese Okkupationszeit mittlerweile auch in Deutschland viel geschrieben worden, so betritt Rusconi mit seiner Darstellung jüngerer Zerwürfnisse wieder historiografisches Neuland. Die rüde Art, wie das EU-Gründungsmitglied Italien seit der Wiedervereinigung an den europäischen Rand gedrängt wurde, hat nicht nur in der politischen Klasse tiefe Spuren hinterlassen. „You are not part of the game“: An diesen Satz, den der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher den Italienern 1990 bei den Zwei-plus-vier-Verhandlungen entgegenschleuderte, fühlten sich römische Diplomaten noch im jüngsten Streit um einen deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat erinnert.

Die deutsch-italienischen Irritationen der vergangenen Jahre beruhten nicht allein auf einem persönlichen Problem mit dem damaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. In dieser Erkenntnis besteht der aktuelle Nutzwert dieses wichtigen Buches, das leider ein wenig zu spröde geschrieben ist, um wirklich breite Leserkreise zu erreichen. Bedauerlich auch, dass Rusconi über seiner verdienstvollen Auswertung diplomatischer Quellen das Echo in einer breiteren Öffentlichkeit fast völlig vergisst.

Das hätte freilich an dem Gesamtbild nicht viel geändert. Den Deutschen geht es mit Italien wie mit dem italienischen Essen, das sie zumeist in Form zerkochter Nudeln mit schweren Sahnesoßen zu sich nehmen: Sie glauben, es zu lieben – und kennen es noch nicht einmal. RALPH BOLLMANN

Gian Enrico Rusconi: „Deutschland – Italien, Italien – Deutschland. Geschichte einer schwierigen Beziehung von Bismarck bis zu Berlusconi“. Aus dem Italienischen von Antje Peter. Schöningh Verlag, Paderborn 2006, 410 Seiten, 39,90 Euro