Unsicherheits-Schwestern

Eine Ich-Erzählerin, eine schöne Künstlerin, Gefühlskälte und täglich eine Flasche Whiskey: Silke Scheuermann beschreibt schonungslos die Ökonomie der Gefühle

VON ANTJE KORSMEIER

Der Vorteil von Horrorfilmen, heißt es an einer Stelle dieses Romans, sei es, dass durch sie die Menschen in dieser abgestumpften Welt überhaupt noch etwas fühlten. Der Horrorfilm als Droge. Ein anderer gängiger Stimulus ist der Alkohol. Dass Drogen langfristig jedoch nicht glücklich, sondern abhängig machen, ist nun leider eine Tatsache. Welche Folgen das alles hat, zeigt Silke Scheuermann in ihrem Debütroman „Die Stunde zwischen Hund und Wolf“.

Erzählt wird die Geschichte zweier Schwestern, die eine langjährige Hassliebe verbindet. Als die Ich-Erzählerin nach Jahren ihre Schwester Ines wiedertrifft, muss sie feststellen, dass aus der attraktiven, erfolgreichen Malerin eine Alkoholabhängige geworden ist. Einst der Star jeder Party, an deren Bildern die Kunstszene „das Leiden ex negativo“ und „eine bravourös gespiegelte Oberflächlichkeit“ lobte, lebt Ines mittlerweile nur noch auf das „Abendtrinken“ hin. Negativität strukturiert die meisten Beziehungen in diesem sorgfältig komponierten Roman. Kai, der Freund von Ines, war einst als Taxifahrer ihr Nachschublieferant für Whiskey; eine Bekannte, Carol, hängt einer nicht erfüllten lesbischen Beziehung mit der Künstlerin nach; und das eigentlich verbindende Element zwischen den beiden Schwestern entpuppt sich als Leerstelle. Die Erzählerin, die früher darunter gelitten hatte, im Schatten ihrer großen Schwester zu stehen, entzieht sich zunächst mit erstaunlicher Beharrlichkeit jeglicher Anteilnahme an deren Leiden; ein Unfall, den Ines im Rausch hat, wird zum Wendepunkt der Geschehnisse.

Silke Scheuermann, die für ihre Lyrik 2001 den Leonce-und-Lena-Preis erhielt, verwendet eine Reihe dichter Motive und poetischer Sprachbilder, um das Ringen der Schwestern um Nähe und Distanz, Bindung und Autonomie zu schildern. Mehrfache Spiegelungen, die von physiognomischer Ähnlichkeit über den Tausch von Kleidern und des Liebhabers bis hin zu erinnerten Kindheitsmomenten reichen, deuten den Grad der trickreichen Verstrickungen an. Manchmal überzeugt Scheuermanns Metapherngebrauch zwar nicht so ganz („Die Luft war von dieser klaren Kühle, die man am liebsten in Aromaflaschen einfüllen und in seiner Wohnung versprühen würde“), und auch die Frequenz, mit der die Figuren in den Räumen auf und ab „spazieren“, kann ein wenig enervieren. Aber von ihrem Kurzgeschichtenband „Reiche Mädchen“ (2005), dessen Erzählungen meistens in allzu offensichtliche Pointen münden, hat sich die Autoren weit entfernt. Gekonnt zeichnet sie ein Personengefüge, das in seiner Offenheit Spannung erzeugt, und anstatt bei der Beschreibung der Zeitgeistbefindlichkeiten orientierungsloser junger Menschen stehen zu bleiben, entwirft sie eine komplexe Ökonomie der Gefühle, deren Strukturprinzipien sie aufmerksam nachspürt.

Ökonomie ist die zweckmäßige Verteilung von Gütern in Form von Tauschvorgängen. Um nichts anderes geht es in diesem Roman: Während Vertrauen, Zärtlichkeit und Liebe knappe Güter sind, überschwemmen Aggressivität, Unsicherheit, Hohn, Scham und Eifersucht den Markt. Die Regungen des Gegenübers werden akribisch gemustert, taxiert, interpretiert: „Sah er eifersüchtig aus?“; es wird genau abgemessen und dann befunden, der andere habe „kein Recht auf Enttäuschung“. Emotionales Territorium ist mithin schwer zu erobern: „Ich fühlte mich von ihr verraten, da hatte ich mich deutlich auf ihre Seite stellen wollen, aber sie wollte dort niemanden bei sich haben; ihre Seite soll nur für sie da sein.“ Vom Sex wiederum heißt es: „Mit Zärtlichkeit hatte es wenig zu tun gehabt, dieses gegenseitige Inbesitznehmen.“

Wer unsicher ist, befürchtet fortwährend, nicht genug abzubekommen, und trachtet danach, die Handelsbilanz zu seinen Gunsten zu verschieben. Aber was, wenn auf beiden Seiten kein Eigenkapital vorhanden ist? „Ich bin nichts“, dieser Satz, mit dem der Roman anhebt und der ihn rhythmisch durchzieht, ist Ausdruck jenes Gefühls, das der Vater einst seinen Töchtern vermittelte. Er bezeichnet das Moment, das die Schwestern im Innersten eint, trieb Ines in den Suff und die Erzählerin in eine ostentative Gefühlskälte – zwei Schutzmechanismen, um Verletzungen vergessen zu machen.

Die Annäherung zwischen ihnen erfolgt eher einseitig, bezeichnenderweise vermittels einer weiteren Spiegelung. Fremdscham ist es, die die Erzählerin von sich aus für ihre Schwester aktiv werden lässt, indem sie ihr eine Flasche Whiskey ins Krankenhaus bringt. „Was ich nicht sagte, war, dass ich nicht wollte, dass Ines sich weiter erniedrigte.“ So funktioniert Sucht. Sie markiert die Abwesenheit von Selbstbestimmung und fordert vom Umfeld Rücksichtnahme und Hilfestellung ein. Wenn auch nicht Dank oder Freude, so erntet die Erzählerin für ihr Geschenk immerhin eine gewisse Anerkennung. Allmählich schwant einem, dass die Verteilung von Abhängigkeiten vielleicht ganz anders gelagert ist. Ines’ vermeintliche Position der Schwäche wirkt zunehmend wie eine Art Schwarzes Loch, ist der Fluchtpunkt der Begehren von Kai, Carol und der Erzählerin. Sie alle lassen nicht davon ab, ihr Leben um „die schöne Säuferin“ herum zu entwerfen, bis hin zu trügerischen Visionen von einer glücklichen Zukunft.

Ines begibt sich am Ende in eine Entzugsklinik, um ihre Trunksucht zu überwinden. Für die Abhängigkeit, unter der die Erzählerin leidet, gibt es keine Heilanstalt.

Silke Scheuermann: „Die Stunde zwischen Hund und Wolf“. Schöffling & Co, Frankfurt a. M. 2007, 174 Seiten, 17,90 Euro