: „Es kann jeden treffen“
SELBSTHILFE Teilzeit, Meetings am Vormittag, Ermutigung: Ford-Expertin Elisabeth Pohl erklärt, wie der Autohersteller Mitarbeitern die Pflege von Angehörigen ermöglicht
■ Am Montag diskutiert Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) mit Sozialverbänden über Angehörige in der Pflege. 4 Millionen Hilfsbedürftige werden von Verwandten versorgt. Diese leiden öfter an chronischen Krankheiten, Rückenschmerzen und Burn-out als Gleichaltrige ohne solche Pflichten. Rösler fordert Kuren ähnlich den Mutter-Kind-Kuren, stärkere Anrechnung von Pflegezeiten bei der Rente und eine Neuordnung der Pflegestufen, die Angehörigen finanziell zugutekäme.
INTERVIEW HEIKE HAARHOFF
taz: Frau Pohl, Sie unterstützen bei Ford Kollegen, die Angehörige pflegen. Wobei genau?
Elisabeth Pohl: Viele, die zu uns kommen, stehen hilflos vor einer spontanen Notlage: Die alte Mutter ist die Treppe heruntergefallen, Oberschenkelhalsbruch, und jetzt wissen die Angehörigen nicht, woher sie Hilfe kriegen sollen. Wir bieten Ermutigung und Gespräche, was zu tun ist: mit dem behandelnden Arzt und dem Sozialdienst im Krankenhaus sprechen, bei der Krankenkasse anrufen.
Warum wissen die Angehörigen diese Dinge nicht selbst?
Pflege ist ein Thema, das wir behandeln wie den Zahnarzt. Wir kümmern uns erst, wenn es wehtut. Weil es mit Abschied zu tun hat, Abschied von Lebensformaten, von Aktivität, von Eltern und Rollenverhältnissen. Insofern sind viele Menschen unvorbereitet, wenn die Realität sie einholt.
Die Ford-Familie steht ihren Angehörigen zur Seite?
Das ist mir zu pathetisch, aber ja: Wir brauchen ein betriebliches Bewusstsein, dass Pflege zum Leben gehört. Pflege ist immer noch ein Tabuthema. Wenn eine Mutter morgens zur Arbeit kommt und sagt, sie ist auf der letzten Rille unterwegs, weil sich ihre kleine Tochter beim Frühstück dreimal den Kakao über das Hemdchen geschüttet hat, dann wird Rücksicht auf sie genommen. Für die Pflege gilt das nicht automatisch. Zu sagen, ich bin auf der letzten Rille unterwegs, weil ich vorige Nacht das Bett meines inkontinenten Vaters dreimal frisch beziehen musste, trauen sich viele nicht.
Wie schafft man so ein Bewusstsein?
Über betriebsinterne Öffentlichkeit. Für einen Kollegen, der seine Eltern zu Arztterminen begleitet und die Firma pünktlich verlassen muss, kann es unangenehm sein, wenn ein Meeting relativ nah am Arbeitsende länger als geplant dauert. Man kann das entschärfen, indem man bittet, Meetings generell eher am Vormittag abzuhalten.
Klappt das im Alltag?
Bei uns auf jeden Fall. Aber Ford ist auch ein großes Unternehmen mit 24.000 Beschäftigten. Wir schätzen, dass 3.000 von ihnen ihre Angehörigen pflegen.
Was brauchen diese pflegenden Angehörigen: Flexible Teilzeitregelungen? Oder eine zeitlich befristete, komplette Freistellung, wie die Familienministerin sie fordert?
Beruf und Pflege müssen vereinbar sein. Der Beruf kann stabilisieren. Wenn man sich ständig mit Krankheit, Tod und Sterben befassen muss, dann können die Bürostunden ein Ausgleich sein, ein Beweis dafür, dass das Leben weitergeht. Ich kenne keinen, der gesagt hätte, ich möchte komplett aussteigen.
Gesetzliche Pflegezeitmodelle gehen demnach an den realen Bedürfnissen vorbei?
■ 44, leitet bei Ford in Köln die interne Kommunikation sowie die Gruppe „Arbeiten und Pflegen“.
Wir bei Ford jedenfalls brauchen sie nicht unbedingt. Wir haben acht auf sehr individuelle Bedürfnisse zugeschnittene Teilzeitmodelle zwischen 15 und 35 Wochenstunden. Darüber hinaus gibt es bei Ford Heimarbeitsplätze oder Sabbatjahre.
Wie sieht es aus im höheren Management?
Jobsharing ist auch hier möglich, aber ich kenne keinen, der sich mit einer Pflegeproblematik an mich gewendet hätte.
Was gewinnen Arbeitgeber, die ihren Beschäftigten zugestehen, die Arbeitszeit zugunsten von Pflegezeit zu reduzieren?
Der Gewinn für den Arbeitgeber ist immens. Zu wissen, meine Firma nimmt mich ernst, stärkt die Motivation, die Loyalität und die Solidarität der Beschäftigten mit ihrem Arbeitgeber. Dazu kommt: Die betroffenen Mitarbeiter haben ja eine Funktion im Betrieb. Ein Unternehmen kann es sich gar nicht leisten, ihnen nicht entgegenzukommen. Andernfalls würde es riskieren, zahlreiche Mitarbeiter zu verlieren. Pflege kann jeden treffen.