: Politik verlässt sich auf einen einseitigen Männerclub
PROTEST Der Bundestag beruft als Experten in die Wohlstandskommission null Frauen, null Migranten
DEBORAH RUGGIERI, ATTAC
BERLIN taz | Frauen und MigrantInnen haben keine klugen Gedanken zum guten Leben – diesen Eindruck kann man bekommen: Die Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages hat 17 Sachverständige berufen, darunter keine Frau und keinen Migranten. Damit wollen sich Ökonominnen, Soziologinnen, Politikerinnen und auch viele ihrer Kollegen allerdings nicht abfinden.
Ist stetes Wachstum möglich, ohne den Planeten zu ruinieren? Können Wirtschaftsmodelle Managern und Arbeitslosen, Kindern und Senioren nützen? Wie lässt sich Wohlstand messen? Es sind große gesellschaftspolitische Fragen, über die die 17 Wissenschaftler in den nächsten zwei Jahren mit 17 PolitikerInnen beraten sollen – unter den Abgeordneten sind durchaus Frauen. Daniela Kolbe von der SPD hat sogar den Vorsitz. Doch auf die renommierten Sachverständigenposten schickten alle Parteien ausschließlich Männer ohne Migrationshintergrund.
Fast jeder Fünfte in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Teams, in denen Männer und Frauen entscheiden, sind erfolgreicher. Unions-Frauen fordern die Frauenquote. Das alles hat man in den letzten Monaten oft gelesen. Die ParlamentarierInnen, die Wohlstand neu definieren sollen, kümmerte es aber nicht. „Ein fatales Signal der Politik“ sei das, sagt Deborah Ruggieri von der Attac-Arbeitsgruppe Gender. Alte Netzwerke kämen zum Tragen: Wirtschaft gilt nach wie vor als Männersache.
„Dabei gibt es genug Ökonominnen“, meint Ruggieri. Und die kritisierten seit langem, dass als Indikator wirtschaftlichen Wachstums nur das Bruttoinlandsprodukt gilt, dass die unbezahlte soziale Arbeit – Pflege von Angehörigen, Erziehung der Kinder – nicht wertgeschätzt wird, dass Bildung, medizinische Versorgung, Verteilungsgerechtigkeit bei der Vermessung des Wohlstands keine Rolle spielen.
Nun haben allerorten Frauen und Männer Schreiben aufgesetzt. Erst Ende letzter Woche hat der Verband Gender Diversity CDU-Bundestagspräsident Norbert Lammert und die Kommissionsvorsitzende Kolbe „nachdrücklich“ aufgefordert, in das Gremium „mindestens ein Drittel Wissenschaftlerinnen und sachverständige Personen mit Migrationshintergrund zu berufen“. Und falls keiner der schon berufenen Wissenschaftler zurücktrete, solle das Gremium einfach wachsen – um „mindestens vier neue weibliche Mitglieder und vier WissenschaftlerInnen mit Migrationshintergrund“. Bei der Suche nach Expertinnen sei man „gerne behilflich“.
Die Forschungs- und Kooperationsstelle Arbeit, Demokratie, Geschlecht der Universität Marburg forderte als Erste eine Neubesetzung. Ihren offenen Brief haben mittlerweile 170 WissenschaftlerInnen unterschrieben. Wenig später initiierte auch das globalisierungskritische Netzwerk Attac einen Protestappell – mit 240 UnterstützerInnen.
„Die Kritik ist berechtigt“, sagt die Kommissionvorsitzende Kolbe. „Die Kompetenz der 17 Wissenschaftler steht nicht in Frage, aber es handelt sich um eine relativ homogene Gruppe.“ Die SPD habe zum Beispiel Expertinnen gefragt, aber Absagen erhalten. Die Fraktionen beriefen unabhängig voneinander Sachverständige, und dann sei „es einfach passiert“. Ändern ließe sich vorerst nichts. Einer der Männer wird wohl kaum zurücktreten. Und der Expertenkreis kann nur vergrößert werden, wenn das Parlament dies beschließt. Das sei „unrealistisch“, meint Kolbe. Der Protest sei aber nicht umsonst – „eine nächste Enquete wird anders zusammengesetzt sein“. HANNA GERSMANN