: Antidepressiva für die SPD
AUS DÜSSELDORF KLAUS JANSEN UND MARTIN TEIGELER
Die SPD hat keine Aschenbecher mehr. Zwar leuchten die Scheinwerfer immer noch rot, und an Stehtischen stehen bärtige Männer mit speckigen Glattlederwesten. Doch alles ist anders. Der SPD-Unterbezirk Mülheim an der Ruhr hat zum Neujahrsempfang geladen, und es darf nicht geraucht werden. In der verglasten Empfangshalle der örtlichen Telekom-Niederlassung gehen schwarzweiß gewandete Kellner zwischen den 250 Gästen umher. Sie verteilen Sekt, Wasser und Weißwein. An einem Tisch in einer Ecke sitzt Hannelore Kraft. Sie trinkt Bier.
Die SPD-Fraktionsvorsitzende von Nordrhein-Westfalen ist auf Heimatbesuch im Ruhrgebiet. Sie schüttelt Hände, spricht mit Kindern und Großeltern. Die kleine Bühne, die die Genossen im Saal aufgebaut haben, betritt sie nicht. Dabei könnte sie testen: Es sind nur noch wenige Tage bis zu ihrem bisher wichtigsten Auftritt als Politikerin. An diesem Wochenende soll sie zur Landesvorsitzenden und Spitzenkandidatin der NRW-SPD gewählt werden. Warum sie ihre Rede für den Parteitag nicht ausprobiert? „Die ist schon fertig, da muss ich nicht mehr viel üben“, sagt sie. Es folgt ein kurzes Augenzwinkern: „Ich habe viel zu sagen.“
Eine Dreiviertelstunde will sie sich heute Zeit nehmen, um der Partei in der großen Bochumer Jahrhunderthalle zu erklären, wie sie das einstige Stammland für die Sozialdemokratie wieder zurückgewinnen will. Aus Berlin kommen die Großen der SPD, Vizekanzler Franz Müntefering und der Bundesvorsitzende Kurt Beck. Zuletzt hatten die Promis Auftritte in Nordrhein-Westfalen gemieden: Zu kaputt war der Landesverband, der mit seiner Wahlniederlage im Mai 2005 das Ende der Regierung Schröder eingeleitet hatte. Jetzt soll die Depression vorbei sein. Wegen Kraft. Parteichef Beck lobt sie bereits jetzt als „glänzende politische Figur“. Sonderlich viele davon hat die SPD in den Bundesländern nicht. Dass sie die erste Frau an der Spitze des größten SPD-Landesverbands sein wird, spiele keine wichtige Rolle, sagt Kraft. Von Vergleichen mit anderen Spitzenpolitikerinnen wie Angela Merkel hält sie „nichts“.
In Mülheim nutzt der Unterbezirksvorsitzende Frank Esser seine Neujahrsansprache, um dem Polit-Star in Ausbildung Mut zu machen. Esser sieht nicht nur aus wie SPD-Generalsekretär Hubertus Heil, er redet auch so. Er wünsche der Landespartei „viel Kraft fürs neue Jahr“, sagt er. Hannelore Kraft steht schräg neben der Bühne. Sie reagiert nicht.
In den vergangenen Wochen hat die NRW-SPD mit „Kraft“-Ausdrücken geradezu um sich geworfen. Nur 5 Prozent der Bürger kennen den Namen der Herausforderin von CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers. Mit Wortwitzen mag sich der Bekanntheitsgrad der 45-Jährigen schnell steigern lassen. Doch auf Kraft kommen „vier Jahre Dauerwahlkampf“ zu, wie es ein Genosse aus dem Landesvorstand formuliert. Da wäre es gut zu wissen, für was der Name steht.
Außerhalb von Düsseldorf sind bis jetzt nur Schlagworte bekannt: Quereinsteigerin. Erst 1994 in die SPD eingetreten – nicht wegen Willy Brandt oder Helmut Schmidt, sondern weil die Sozialdemokraten in ihrer Heimatstadt Mülheim gerade die Macht im Stadtrat verloren hatten und sie dachte, „da müsste man was tun“. Ihr Vater Straßenbahnfahrer, ihre Mutter Schaffnerin. Aufstiegsbiografie: Hat in Duisburg und London Ökonomie studiert: „Für mich war die größte SPD-Errungenschaft immer Bildung und Bafög. Das war der Grund, weshalb ich an die Uni konnte.“ Danach als Unternehmensberaterin gearbeitet. Verheiratet mit einem Elektroinstallateur. Ein 14-jähriger Sohn. Als Liebling von Ex-Landeschef Wolfgang Clement schnell zur Landesministerin aufgestiegen, erst für Europaangelegenheiten, dann für die Wissenschaft. Und sonst?
„Ich habe in London Leute auf der Straße verhungern sehen“, sagt Hannelore Kraft über ihre Zeit in England unter Margaret Thatcher. Wegen solcher Sätze sehen Gegner wie FDP-Generalsekretär Christian Lindner einen „beispiellosen Linksruck“ darin, dass sie nun den als „lebende Büroklammer“ verspotteten Verwaltungsmenschen und Übergangsvorsitzenden Jochen Dieckmann als NRW-SPD-Chefin ablöst. „Schrill“ und „aggressiv“ sind die Attribute, die ihr das Rüttgers-Lager verpasst hat. Weil Kraft zu fast allem Nein sagt, was die Landesregierung vorschlägt. Weil sie laut, manchmal sehr laut redet und als Biertrinkerin aus dem Ruhrpott Worte wie „scheiße“ oder „bekloppt“ sagt. CDU und FDP setzen auf den Andrea-Ypsilanti-Faktor: Seht her, die SPD ist am Ende, da fällt ihr als Alternative – siehe Hessen – nur noch eine linke Frau ein – die „letzte Lore“. „Johannes Rau würde sich im Grabe rumdrehen“, fällt CDU-Generalsekretär Hendrik Wüst zur Nominierung ein.
Eine klassische Parteilinke ist Kraft jedoch nicht: In ihren Parlamentsreden pendelt sie zwischen eher „linken“ und eher „rechten“ SPD-Positionen. Für die Modernisierer betont sie die Bildungspolitik und verteidigt auch schon mal die Hartz-Reformen. Den Parteilinken gefällt ihr Einsatz für den dritten Arbeitsmarkt und ein soziales Grundeinkommen. Sie wolle für die SPD „neue Inhalte und Positionen erarbeiten“, sagt Kraft und nennt das „Profilbildung“. Kraft-Skeptiker nennen das beliebig.
„Sie ist keine von uns“, sagt ein Bundestagsabgeordneter der Parteilinken. „Aber das mit der Kohle hat sie gut gemacht“, sagt der langjährige Parlamentarier anerkennend. Kraft hat es geschafft, dass sich die Bundes-SPD auf die Fortsetzung der Steinkohleförderung festgelegt hat. „Wir müssen den Zugang zu den Kohlelagerstätten offen halten“, sagt sie. Während Bundesfinanzminister Peer Steinbrück und andere SPD-Realpolitiker wohl eher aussteigen wollen aus der milliardenteuren Subventionierung der Kohle, hält Kraft eisern zu den verbliebenen 30.000 Kohlekumpels an Rhein und Ruhr. Gern fährt sie unter Tage und lässt sich mit schmutzigem Gesicht neben Zechenarbeitern fotografieren. Und ärgert damit Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, der das letzte Bergwerk spätestens im Jahr 2018 dichtmachen will.
Offiziell begründet Kraft ihren Einsatz für die Kohle mit der Energiesicherheit und der international stark nachgefragten deutschen Bergbautechnologie. Nicht ganz so offiziell gibt die SPD zu, dass auch dieser Streit unter „Profilbildung“ fällt. „Kraft heißt Angriff“, heißt es in ihrem Umfeld. Weil Jürgen Rüttgers mit seinem Image als sozialer Rebell innerhalb der Bundes-CDU inhaltlich schwer zu stellen ist, wird die Offensive flugs zum Selbstzweck: So zieht Kraft gegen Haushaltskürzungen zu Felde, die sie als Ministerin selbst so ähnlich unterstützt hatte. Kraft schafft es, in einem Satz Sparvorschläge und Schuldenpolitik gleichzeitig zu kritisieren. Dass die NRW-SPD in ihrer 39-jährigen Regierungszeit mehr als 100 Milliarden Euro Miese angehäuft hat, verschweigt sie.
Zeit für Reflexion und Aufarbeitung der Fehler wird Kraft der NRW-SPD nicht mehr lassen. Sie befindet sich im Wahlkampf. Ihr Ziel ist es, die parteipolitische Auseinandersetzung mit der Rüttgers-Regierung bis zum Landtagswahlabend 2010 in einem Zustand der permanenten Eskalation zu halten. Denn der trotz des Verlusts von 40.000 Mitgliedern in den vergangenen fünf Jahren noch immer imposante Apparat der Landespartei lässt sich nicht mit ausgefeilten Strategiepapieren, sondern nur mit Kampfgebrüll aus dem Koma ins Leben zurückholen.
Kraft weiß, dass ihr bei dieser Mission ihre erst kurze Parteikarriere nicht hilfreich ist. Deshalb trinkt sie Bier statt Weißwein, deshalb verteidigt sie die antiquierte „Ochsentour“, die besonders in der NRW-SPD noch immer Voraussetzung für einen Funktionsposten ist. In ihrer eigenen schnellen Karriere ist da kein Widerspruch: Niemand habe so viel Plakate geklebt wie sie. Kraft will die traditionshungrige Basis wieder an die Landespartei heranführen, die ihre Anhänger unter den Ministerpräsidenten Clement und Steinbrück immer mehr mit technokratischer Politik verprellt hatte. Unideologisch wie die „Neue-Mitte“-Politiker will sie auch sein – aber ohne Basta. Das Memoirenbuch von Gerhard Schröder hat sie nicht gelesen.
Hannelore Kraft realisiert erst langsam, dass sie mit der Wahl zur Vorsitzenden des mächtigsten SPD-Landesverbandes in die erste Liga der deutschen Sozialdemokratie aufsteigt. „Ich hatte nie vor, Berufspolitikerin zu werden. Ich muss noch lernen“, sagt sie. „Aber das kann ich.“ Noch nimmt sie Anrufe am Handy ihres Pressesprechers an, wenn der gerade in der Kantine fürs Dessert ansteht. Noch gehören auch typische Politikergesten nicht zu ihrem Repertoire: Als Vizekanzler Franz Müntefering vor wenigen Wochen auf einer Visite im Düsseldorfer Landtag vorbeischaut und im Foyer vor laufenden Kameras wartende Migrantenkinder tätschelt, bleibt sie im Hintergrund. Die Rüttgers-Freunde sind sicher, dass Kraft „keinerlei Gefahr“ darstellt. Der Regierungschef selbst nennt die Oppositionsführerin bislang meist „die Abgeordnete Kraft“.
Auf dem Neujahrsempfang in Mülheim beweist Hannelore Kraft auch ohne eine politische Rede, dass sie ihre Lehrzeit bald abgeschlossen haben will – dass sie nicht mehr nur Abgeordnete, sondern Rivalin sein will. Die Frage, warum sie nicht ans Pult tritt, beantwortet sie mit einem Lachen. „Das hier ist nicht mein Spielfeld“, sagt sie. Nicht mehr.