: Ein großer Deutscher
Der klare Bürgerentscheid für die Rudi-Dutschke-Straße in Berlin-Kreuzberg räumt die letzten Zweifel aus – nur nicht beim Springer Verlag. Soll Biermann die Straße einweihen?
VON PETER UNFRIED
Am Tag nach dem Bürgerentscheid wiesen die Straßenschilder die Rudi-Dutschke-Straße in Berlin immer noch als Kochstraße aus. Genau wie in all den 273 Jahren, seit 1734 die historische Kirchstraße gnadenlos umbenannt worden war. Weil ein Herr Koch der Stadt in einer Grundstücksfrage entgegenkam. Diesmal ist es anders: Der von der CDU initiierte Bürgerentscheid vom Sonntag hat ja nur die von der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg beschlossene Umbenennung eines Teils der Kochstraße mit 57,1 Prozent bestätigt. Der Name Kochstraße und die Tradition des Zeitungsviertels bleiben vollständig erhalten.
Das Interessante an dem Bürgerentscheid ist, dass das Quorum überschritten wurde. 30.695 Leute gingen zur Wahl. Angesichts des Widerstands der CDU und des Springer Verlags hatten eine Menge Menschen, denen die Dutschke-Straße lange möglicherweise nicht superwichtig war, den Eindruck gewonnen: Ja, das muss jetzt sein. Wenn es schon eine Springer-Straße geben muss, dann soll es auch eine Dutschke-Straße geben. „Eine Provokation und eine Versöhnungsgeste“ nannte Marek Dutschke, der jüngere Sohn Dutschkes, das bei der Wahlveranstaltung im Kreuzberger tazcafé.
Warum die CDU in diesem Bezirk bei 8 Prozent liegt, darüber hat man während ihres Kampfs eine Vorstellung erhalten. Die Argumentation entsprach schlicht nicht dem Aufklärungsstand der meisten Menschen. Auch der Berliner CDU-Fraktionschef Friedbert Pflüger hatte sich gegen Dutschke einspannen lassen. „Pflüger hätte das Ausrasten seines Bezirks stoppen müssen“, sagte der Grüne Europaspitzenpolitiker Daniel Cohn-Bendit der taz. Für Cohn-Bendit, der als „Dany Le Rouge“ 1968 die Proteste in Paris anführte, hat sich die CDU genauso „blamiert“ wie die SPD mit ihrer zeitweiligen Ablehnung der Ehrenbürgerschaft für den Künstler Wolf Biermann. Cohn-Bendit: „Der Ehrenbürger Biermann und die Dutschke-Straße bringen die Vielfältigkeit der Berliner Geschichte auf den Punkt.“
Rudi Dutschke (1940–1979) ist als führender Denker und Sprecher der außerparlamentarischen Bewegung integraler Teil der Aufbruchsbewegung von 1968, das Attentat durch einen aufgehetzten Bild-Leser gibt ihm eine singuläre Dimension. Dass er eine Straße bekommt, hat über Berlin hinaus nicht nur für 68er eine wichtige symbolische Bedeutung. „Es ist gut, dass Rudi Dutschke eine Straße bekommt“, sagte Inge Jens der taz. Die Publizistin steht für ein aufgeklärtes, liberales Großbürgertum, das 1968 erlebt und danach ein Leben lang intellektuell abgewogen hat. „Wir wären heute nicht da, wo wir sind, wenn 1968 und Dutschke das nicht angestoßen hätten“, sagt Jens. Für ihren Ehemann Walter Jens ist Dutschke, wie er vor einiger Zeit der taz sagte, „einer der großen Nachkriegsdeutschen“.
Über 1968 hinaus steht der in der DDR aufgewachsene Dutschke auch für die Entwicklung eines Teils der westdeutschen Gesellschaft in den 70ern bis hin zur Entdeckung der ökologischen Frage und der Gründung der Grünen kurz vor seinem Tod 1979. Vielleicht erklärt das auch die große Zustimmung durch die grünen Milieus von Friedrichshain-Kreuzberg. Jene haben Hans-Christian Ströbele nicht zuletzt deshalb zweimal direkt in den Bundestag gewählt, weil er wie Dutschke und Cohn-Bendit die Entwicklung dieses Teils der deutschen Nachkriegsgesellschaft, auch mit ihren Brüchen, symbolisiert und in die Gegenwart transzendiert.
Was die Straßenschilder betrifft, so können sie erst ausgewechselt werden, wenn eine laufende Klage von Anwohnern und Axel Springer AG abgelehnt wird. Das basisdemokratische Votum zu akzeptieren, lehnt Springer ab. Für Daniel Cohn-Bendit ist „die Sache gelaufen“. So oder so. „Ich bin überzeugt, dass im Falle eines Falles eine überwältigende Mehrheit im Senat für Dutschke stimmen wird.“ Sein Vorschlag: „Wolf Biermann soll die Rudi-Dutschke-Straße einweihen“. Das hat was.