Grollendes Unbehagen

Rückkehr der Klassengesellschaft (1): Die Debatte um die Unterschicht dient vor allem einen Zweck – die verunsicherte bürgerliche Mittelschicht grenzt sich nach unten ab

Warum spieltdie Linke in dieserDiskussion eigentlich nur die Rolleeines Zuschauers?

In der Unterschichtsdebatte der letzten Wochen ist Angst so etwas wie Kriechstrom: fast überall vorhanden, aber nirgends wirklich fassbar. Das Gefühl, diffus bedroht zu sein, zeigt sich schon daran, dass seltsam unklar ist, wovon eigentlich die Rede ist.

Wer „Unterschicht“ sagt, kann alles Mögliche meinen: von drogenabhängigen Kriminellen, die ihr Kind ermorden, bis zu Leuten, die sich von Aldi und McDonald’s ernähren, vom Hartz-IV-Empfänger, der noch vor kurzem Software-Entwickler war, bis zu Kindern russlanddeutscher Migranten.

Die Angst vor der Unterschicht erinnert vage an die frühen 30er-Jahre – aber die Situation ist heute anders. Vor 1933 befand sich die Mittelschicht in Panik, die Oberschicht war in aggressivem Klassendünkel und der Furcht vor der Revolution befangen. Heute hingegen beugt man sich eher mit besorgtem Blick nach unten und fragt, gerne in vorwurfsvollem Ton, warum diese Leute eigentlich keinen Aufstiegswillen zeigen und zu viel Fernsehen gucken. In den oberen Etagen fürchtet man nicht die Revolte, sondern steigende Sozialkosten, wenn die Unterschicht immer dicker und phlegmatischer wird.

Interessant ist, warum „Unterschicht“ so abrupt zu einer affektiv aufgeladenen Vokabel geworden ist, die alles Mögliche zu erklären scheint. Denn die sozialen Daten sind keineswegs neu. Dass es in Deutschland Armut gibt, war alle Jahre wieder in Zeit-Dossiers zu lesen, die die bildungsnahe Mittelschicht ungelesen im Altpapier entsorgte. Dass die Chancen von Unterschichtskindern stetig gesunken sind, war schon vor Pisa nichts Neues. Und seit mehr als 20 Jahren gibt es hunderttausende Langzeitarbeitslose, die eine Schicht von Ausgeschlossenen bilden, die faktisch keine Möglichkeit hat, in das normale Arbeitsleben zurückzukehren.

Warum ist plötzlich beunruhigend, was lange mit einem Schulterzucken bedacht wurde? Warum erscheinen der Mitte der Gesellschaft plötzlich jene Problemzonen, die sie sich lange erfolgreich vom Leib hielt, als ein böses Zeichen der Zeit? Offenbar weil sie das unbehagliche Gefühl beschleicht, dass der Boden schwankt, auf dem sie ihr Reihenhaus bauen will. Die sozialen Absteiger tragen seit Jahren nicht mehr nur Blaumann, sondern auch Anzüge von Hugo Boss. Sie kommen nicht mehr nur aus den Fabriken, sondern auch aus Banken, Versicherungen und Hightech-Firmen. Manche von ihnen haben eine imposante akademische Bildung. Der rheinische Kapitalismus wickelt sich selbst ab. Nun kann es fast jeden treffen – daher die diffuse Beunruhigung.

Dies ist die Folie, vor der die Unterschichtsdebatte spielt. Bei ihr geht es nicht nur um Erkenntnisgewinn, sondern auch um kulturelle Distanzgesten – und soziale Distinktionen. Es geht um Selbstversicherungen einer zweifelnden Mittelklasse, der es noch gut geht, die aber ahnt, wie fix es auf der Rutsche „Arbeitslosigkeit, Hartz IV“ nach unten gehen kann.

Zudem kann man die flügelschlagende Aufregung um die Unterschicht nur verstehen, wenn man die Debatte um die Neue Bürgerlichkeit, den Hit des letzten Sommers, mitbedenkt. Der leicht schaudernde Blick nach unten, auf das zum Klischee geronnene Bild antriebsarmer, verfetteter RTL2-Gucker, dient der Feststellung einer Differenz. Offenbar braucht die „neue Bürgerlichkeit“ Gegenbilder. Bei Norbert Bolz, einem militanten bekehrten Neubürger, ist die Feier des Bürgerlichen direkt mit ästhetischer Distanzierung von der Unterschichtskultur verkoppelt. Leicht angewidert betrachtet Bolz eine Welt, in der im Schwimmbad alle Tattoos haben und sogar Schuldirektoren Ohrringe tragen. Vor solchen Zumutungen flieht der entnervte Neobürger in seine sanierte Altbauwohnung, um sich dort dem Schönen, Wahren & Guten zu widmen. „68“ hat als Menetekel, auf das die Neobürger mit wohligem Grauen blicken, langsam ausgedient. Als Ersatzgegner scheinen nun die Unterschichten zu fungieren.

Interessant ist, dass dies dem Bild der Unterschicht in der aktuellen Debatte widerspricht. Derzeit erscheint der Unterschichtsangehörige als stumpfsinniger Empfänger von Sozialtransfers und Konsument medialen Trashs. So ist es, kulturell gesehen, nicht. Tattoos und Piercing, Rap und Sonnenstudios sind massenkulturelle Praktiken der Unterschicht, die längst in der Mittelschicht angekommen sind. Sozial ist der Weg von unten nach oben verriegelt – doch in der Popkultur sind die Klassengrenzen durchlässig, ja mehr noch: Popkultur ohne Unterschicht ist nicht denkbar. So existieren zwei Unterschichtsbilder: das des passiven Konsumenten und das einer Schicht, die – zum grollenden Unbehagen des Neobürgers – eben nicht passiv ist, sondern mit ihren massenkulturellen Praktiken unerfreulicherweise auf die Mitte der Gesellschaft abfärbt.

Es geht bei der Unterschichtsdebatte weniger um Erkenntnis-gewinn als um kulturelle Distanzgesten

Die Erkenntnis, dass sich Deutschland von einer Mittelschichtsgesellschaft in eine Klassengesellschaft zurückverwandelt, verdanken wir auch einem Konservativen. Paul Nolte hat das Igitt-Wort Klassengesellschaft wieder salonfähig gemacht – und das Kunststück vollbracht, eine klare Analyse wachsender Klassenspaltungen mit einem pädagogischen Programm konservativ wieder einzufangen. Der Unterschicht fehlt, so Nolte, nicht Geld, sondern Kultur – weniger Gameboys, mehr Gemüse. Nicht die wachsende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich ist in dieser Lesart das Kernproblem, sondern eine Art Charakterdefekt der Unterschicht, der man bürgerliche Werte beibiegen muss. Nolte deutet Interessenkonflikte in Wertekonflikte um – ein konservatives Standardargument. Das ist intellektuell dürftig – doch immerhin hat es geholfen, die wolkige, als Toleranz getarnte Indifferenz zu beseitigen, mit der die Mehrheitsgesellschaft nach unten blickte.

Die Linke spielt in dieser Debatte eine bemerkenswerte Rolle – nämlich keine. Das ist verwunderlich, denn verhandelt werden linke Kernthemen – Gerechtigkeit, Armut, Chancengleichheit. Doch offenbar geht vielen, die von dem Glauben an die heilbringende Mission des Proletariats kuriert wurden, das Wort Klasse noch immer kaum über die Lippen. Ähnlich verhält es sich mit normabweichendem Verhalten. Früher hat die Linke antibürgerliches Verhalten von Randgruppe projektionsverhangen zu Widerstandsgesten verklärt, auch wenn es sich dabei nur um blanken Egoismus handelte. Seit die Linke auch von der Illusion kuriert ist, dass das untere Fünftel der Gesellschaft von edlen Wilden bevölkert wird, hat es ihnen, was die Unterschichten angeht, die Sprache verschlagen.

Was der Debatte fehlt, ist zweierlei. Die Erkenntnis, dass, wer von Armut redet, von Reichtum nicht schweigen sollte. Und eine Haltung gegenüber den Ausgeschlossenen, die sie nicht zu Gespenstern macht, nicht zu bloß defizitären Figuren, die den bürgerlichen Kanon nicht beherrschen, oder zu Bedrohungszeichen, die in der guten Stube Unordnung machen. Kurzum: Respekt. Eine, in der Tat, bürgerlichen Tugend. STEFAN REINECKE