: Mädchenjahre in der Steinzeit
HIPPEN EMPFIEHLT „Dschungelkind“ von Roland Suso Richter ist die Adaption der Autobiografie von Sabine Kuegler, die bei einem Stamm in West Papua aufwuchs
VON WILFRIED HIPPEN
Was Eltern ihren Kindern alles zumuten! Zum Beispiel der Vater der achtjährigen Sabine. Es ist sein Job, als Sprachforscher in den Urwald von West-Papua zu gehen, um dort die Sprache und Riten eines Stammes zu untersuchen, der bisher noch völlig unberührt von der modernen Zivilisation lebte. Aber da dies ein langjähriges Projekt ist, holt er seine Familie in den Dschungel, wo sich Sabine, ihr Bruder und ihre ältere Schwester wohl oder übel mit den primitiven Verhältnissen arrangieren müssen. Nebenbei herrscht auch noch ein blutiger Stammeskrieg und die Eingeborenen reagieren eher misstrauisch und aggressiv auf drei blonde Kinder.
Sabine Kuegler wuchs schließlich mehrere Jahre im Dschungel auf und schrieb über ihre abenteuerliche Jugend ein Buch, dessen Adaption natürlich Vergleiche zu „Die weiße Massai“ von Hermine Huntgeburth nahe legt, der ebenfalls auf einer wahren Geschichte beruht. Mit den bekannten Gesichtern von Thomas Kretschmann und Nadja Uhl als Elternpaar wird auch hier zuerst in der vertrauten Bilderwelt des deutschen Films geerdet, aber schnell wird klar, dass beide nur Nebenfiguren sind. Sabine wird als Kind von Stella Kunkat und als Jugendliche von Sina Tkotsch gespielt. Beide haben die nötige Präsenz, um den Film zu tragen.
Es ist eine archaische Welt, in die „Dschungelkind“ den Zuschauer versetzt, und Roland Suso Richter gelingt es, diese Eingeborenen-Siedlung in West-Papua überzeugend in Szene zu setzten. Zusammen mit der am Anfang des Films achtjährigen Sabine lernt das Publikum diese fremde Umgebung und ihre Bewohner mit ihren Gesetzen, Ritualen und Sitten kennen.
Konsequent wird aus ihrer Perspektive erzählt, und mit seiner Protagonistin hat der Film immer einen soliden Orientierungspunkt, wodurch es leicht fällt, sich in dieser so fremden und zuerst durchaus auch bedrohlichen Welt zurechtzufinden. Richter ist so klug, sich ganz auf die Beziehungen zwischen den einzelnen Filmfiguren zu konzentrieren.
So bekommt man einen intensiven und glaubwürdigen Eindruck von der Situation in der Familie, davon wie unterschiedlich die drei Kinder auf ihr Leben im Urwald reagieren und auch davon, wie die Mutter als ausgebildete Krankenschwester ständig den Konflikt aushalten muss, dass sie das schwere, oft auch grausame Leben und Sterben der Stammesmitglieder beobachten muss, aber nicht darin eingreifen soll (die berühmte erste Direktive aus der Fernsehserie „Raumschiff Enterprise“ gilt offensichtlich auch unter Urwaldforschern).
Es ist Suso hoch anzurechnen, dass die Wildnis bei ihm nicht als ein exotisches Paradies den Sehgewohnheiten eines hiesigen Publikums entsprechend hergerichtet wurde. Trotz des großen Aufwands eines Drehs in den Tropen wurde kaum geschönt, und um so eindrucksvoller wirkt dann die Entwicklung, die Sabine durchmacht, bis sie tatsächlich ein „Dschungelkind“ ist, das zwischen zwei Kulturen aufwächst, aber emotional eher im Urwald zuhause ist. Diesen langwierigen und widersprüchlichen Prozess zeigt der Film in einer im Kino ungewöhnlich Komplexität, und es gelingt dabei, jede Nuance in der Entwicklung nachvollziehbar darzustellen.
Das ist auch ein Verdienst des gut besetzten und geführten Ensembles, und dies gilt sowohl für die deutschen Schauspieler wie auch für die Darsteller der Eingeborenen. Dadurch, dass hier zwei gänzlich verschiedene Kulturen aufeinander stoßen, werden zwangsläufig existentielle Fragen gestellt und verhandelt. Es ist eine Qualität des Films, auch dieser Ebene Raum zu lassen, während er gleichzeitig immer ganz nah an der Protagonistin bleibt.