: Getauft mit dem SS-Dolch
ZEITGESCHICHTE In der „Topographie des Terrors“ referiert Dorothee Schmitz-Köster über den Lebensborn. Die rassistischen Zuchtanstalten sollten eine neue Nazi-Elite hervorbringen – mit Sex aber hatten sie nichts zu tun
VON KLAUS HILLENBRAND
Ganz am Ende der Diskussion, als die ersten Besucher im Auditorium der Topographie des Terrors schon nach ihren Mänteln suchen, ergreift eine schlanke ältere Frau mit roten Haaren und einer Baskenmütze das Wort. Sie wolle sich jetzt „outen“, sagt die Dame: „Auch ich bin ein Lebensborn-Kind.“ Und sie berichtet, wie sie ihren Vater, den sie erst sehr spät kennengelernt habe, bis zu seinem Tod gepflegt hat. „Wir werden bis heute diskriminiert“, sagt sie, „denn Lebensborn-Kinder sind nicht erbberechtigt.“ Vom Podium erhält sie die Antwort, dass dies leider stimme und für alle vor 1945 unehelich geborenen Kinder gelte. Besser macht es die Sache nicht.
Aber wieso überhaupt Väter? Sind die Lebensborn-Kinder nicht Produkte von perfiden Zuchtanstalten, in denen anonyme SS-Männer willige deutsche Frauen unter der Ägide von Heinrich Himmler begatteten, und sind die männlichen Erzeuger nicht deshalb bis heute unbekannt geblieben sind? Tatsächlich geistert die Mär vom Nazipuff bis heute durch die Öffentlichkeit. Die Realität war weniger schlüpfrig, aber nicht besser. In den im gesamten Reich und später auch in den besetzten Gebieten verteilten Lebensborn-Heimen wurden zwar Kinder geboren und aufgezogen, die später einmal zur Elite des NS-Führerstaats zählen sollten. Sex allerdings, der fand dort nicht statt. Männer hatten sich, wenn sie denn überhaupt einmal im Heim anwesend waren, in den Besuchsräumen aufzuhalten.
Die Sozialwissenschaftlerin und Journalistin Dorothee Schmitz-Köster referiert an diesem Abend in der „Topographie des Terrors“ unter der souveränen Moderation von Bernward Dörner über ihr Buch „Deutsche Mutter, bist du bereit … Alltag im Lebensborn“. Nun ist in den letzten Jahren eine ganze Reihe fundierter Darstellungen zu dem „tabuisierten Thema“ (Dörner) erschienen. Schmitz-Köster aber, die sich seit über 20 Jahren mit der Thematik auseinandersetzt, hat nicht nur staubtrockene Akten darüber gewälzt. Sie hat auch Mütter befragt und Kinder.
Auf einem Foto sieht man eine Art Altar. Links und rechts sind Jul-Leuchter zu sehen, in der Mitte steht eine Hitlerbüste, im Vordergrund ein Tisch. Dort wurde das Lebensborn-Baby abgelegt. Ein SS-Mann stellte die Frage: „Deutsche Mutter, verpflichtest du dich, dein Kind im Geiste der nationalsozialistischen Weltanschauung zu erziehen?“ Nach dem obligaten „Ja“ hielt der Heimleiter einen SS-Dolch über das Kind, berührte es damit und sprach: „Ich nehme dich hiermit in den Schutz unserer Sippengemeinschaft und gebe dir den Namen …“
Wesentlich banaler als diese Nazitaufe gestaltete sich, so berichtet Schmitz-Köster, der Eintritt in die Lebensborn-Heime. Vor allem drei Gruppen von Frauen zählten zu den Kunden dieser rassistischen Veredelungsanstalten. Die einen trieb die nackte Not: Wer ein uneheliches Kind erwartete, galt in der Gesellschaft als deklassiert. Abtreibung war streng verboten. Da war die preisgünstige Unterbringung im Lebensborn-Heim, häufig unter Vermittlung eines Arztes, eine echte Alternative. Mutter und Kind durften dort Monate verbringen, und wer es bevorzugte, konnten das Baby danach zur Adoption freigeben – selbstverständlich in eine „rassisch reine“ deutsche Familie.
Die andere Gruppe bestand aus mit SS-Männern verheirateten Frauen, für die sich die Lebensborn-Heime als perfekte Entbindungsanstalten mit gutem Service auch mitten im Krieg anboten. Die dritte Gruppe schließlich umfasste ausländische, natürlich „rein arische“ Frauen, die ein Verhältnis mit einem deutschen Wehrmachtsangehörigen eingegangen waren und deren Kinder später einer „Aufnordung“ des deutschen Volkes dienen sollten.
Der Begriff der Zuchtanstalten ist insofern dann doch nicht so verkehrt, war es doch eine Voraussetzung für die Aufnahme, dass beide Partner dem rassistischen Wertekodex der Nazis entsprachen. Und deshalb kann von anonymen Vätern nicht die Rede sein: Sie mussten, ebenso wie die Mütter, ein Erbgesundheitszeugnis beibringen und gesund sein. Dem Ausleseprinzip entsprechend wurden etwa 60 Prozent aller Aufnahmeanträge abgelehnt.
So erweist sich der Lebensborn als die eine Seite einer Medaille: Während die SS Millionen „rassisch minderwertige“ Menschen systematisch ausrottete, sollte ihre Anstalt zugleich für eine weitere „Veredlung“ der deutschen „Herrenrasse“ sorgen.
Und die Lebensborn-Kinder? Tatsächlich suchen viele unter ihnen bis heute vergeblich nach ihren Vätern. Der männliche Erzeuger war den Heimen zwar prinzipiell bekannt, berichtete Schmitz-Köster. Er konnte aber auf Wunsch in der Geburtsurkunde ausgelassen werden – als eine Art Service für vermeintliche uneheliche Verfehlungen. Viele der internen Dokumente wurden bei Kriegsende vernichtet. Manche Mütter aber blieben bis zur ihrem Tod gegenüber ihrem Kind sprachlos – als zu groß galt immer noch ihre Schande.
■ Dorothee Schmitz-Köster: „‚Deutsche Mutter, bist du bereit …‘. Alltag im Lebensborn“. Aufbau Verlag, Berlin 2010, 412 Seiten, 9,95 Euro