: Die Türken lassen sich ihren Stolz nicht verbieten
Im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen Ankara und Brüssel steht ein Paragraph, der die Beleidigung des Türkentums unter Strafe stellt
ISTANBUL taz ■ Wenn in diesen Tagen über das Verhältnis der Türkei zur Europäischen Union gesprochen wird, bemühen alle Beteiligten markante Bilder: vom drohenden Zusammenprall zweier Züge, spricht etwa der Brüsseler Erweiterungskommissar Olli Rehn, andere halten es mehr mit maritimen Metaphern. Da ist von stürmischen Zeiten die Rede oder dem Riff, auf dem das türkische EU-Projekt zu kentern drohe. Gemeint ist mit alledem, dass ein Jahr, nachdem die Beitrittsgespräche zwischen der EU und der Türkei offiziell eröffnet wurden, die beiderseitigen Beziehungen den tiefsten Punkt seit Jahren erreicht haben. So schlecht wie im Moment hat man schon lange nicht mehr übereinander geredet.
Nachdem das Europaparlament erst vor wenigen Wochen einen höchst kritischen Türkeibericht verabschiedet hatte, wird am Mittwoch die EU-Kommission ihren jährlichen „Fortschrittsbericht“ über die Türkei präsentieren. Nach dem, was bislang darüber bekannt wurde, wird die Kommission tief greifende Reformmängel bei Menschenrechten, Meinungs- und Religionsfreiheit sowie bei den Rechten der Minderheiten kritisieren.
Noch immer, so die Kommission, kommt es vor, dass in Untersuchungshaft gefoltert wird und noch immer gehe die Justiz nicht konsequent genug Foltervorwürfen nach. Die christlichen Minderheiten würden nach wie vor diskriminiert, weil die Kirchen keinen eigenständigen Rechtsstatus haben und deshalb beispielsweise keine Immobilien erwerben und keine Kirchen bauen könnten. Zum eigentlichen Symbol der Stagnation in dem vor vier Jahren so schwungvoll begonnenen Reformprozess ist aber ein Paragraph im erst vor knapp zwei Jahren runderneuerten Strafgesetzbuch geworden.
In dem mittlerweile berüchtigten Paragraphen 103 wird die „Beleidigung“ des Türkentums als Straftatbestand festgeschrieben. Dieser ist allein in den letzten eineinhalb Jahren rund siebzigmal gegen Journalisten, Historiker und Schriftsteller benutzt worden, die sich in den Augen nationalistischer Kreise abträglich über das Türkentum geäußert haben. Der Kristallisationspunkt der Auseinandersetzung ist die Armenierfrage. Immer wieder wurden Journalisten und Schriftsteller, bis hin zu Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, vor den Kadi gezerrt, weil sie die offizielle Position – es habe damals in den Kriegswirren 1915 zwar Übergriffe auf Armenier gegeben, von einer systematischen Verfolgung, einem Völkermord gar, könne aber keine Rede sein – kritisierten.
Die EU-Kommission hat die türkische Regierung mehrfach aufgefordert, diesen Straftatbestand abzuschaffen, trifft damit aber auf hinhaltenden Widerstand. „Will die EU uns verbieten, stolz auf unser Türkentum zu sein?“, polemisiert Justizminister Cemil Cicek und punktet dabei nicht nur auf Seiten der Rechten, sondern auch bei der kemalistischen Opposition.
Die Verhärtung auf türkischer Seite hat mehrere Ursachen. Die Regierung unter Tayyip Erdogan hat die Annäherung an die EU nach ihrem Amtsantritt vor vier Jahren als das Hoffnungsprojekt gestartet. Die Intensität des Reformprozesses entsprach der damals positiven Resonanz in den Machtzentren der EU. Dieses Szenario hat sich dramatisch geändert. Spätestens seit Frankreich und die Niederlande gegen die EU-Verfassung stimmten, hat sich der Wind gedreht. „Die EU sendet praktisch nur noch negative Signale an die Türkei“, stellte der frühere Erweiterungskommissar Günter Verheugen kürzlich auch öffentlich fest, entsprechend ist die Stimmung in der Türkei. Selbst die größten türkischen EU-Enthusiasten sind in der Defensive, weil es ihnen immer schwerer fällt, glaubhaft zu machen, dass die Türkei jemals Mitglieder der Union werden wird.
Deshalb ist es auch wenig wahrscheinlich, dass die Regierung Erdogan bis Ende des Jahres, wie von der EU gefordert, die Häfen und Flughäfen für griechisch-zypriotische Schiffe und Flugzeuge öffnet, wenn nicht auch die griechische Seite substanzielle Zugeständnisse bei der Aufhebung des Boykotts der türkischen Zyprioten im Norden der Insel macht. Angesichts der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im kommenden Jahr würde die Regierung politischen Selbstmord begehen, wenn sie die Häfen und Flughäfen ohne Gegenleistung öffnete. Dass Außenminister Abdullah Gül die Einladung der finnischen Ratspräsidentschaft zum Zypern-Krisengipfel am Wochenende ausgeschlagen hat, ist Teil des gegenwärtigen Pokers. Doch der Countdown läuft. Auf dem EU-Gipfel im Dezember wird darüber entschieden, ob die Beitrittsgespräche mit der Türkei ausgesetzt werden. Dafür ist eine Zweidrittelmehrheit im Rat nötig, was immer noch als ziemlich unwahrscheinlich gilt. Auf der anderen Seite braucht es aber einen einstimmigen Beschluss aller EU-Mitgliedstaaten, um ein Verhandlungskapitel mit der Türkei abzuschließen oder neu zu eröffnen. Da zumindest die griechischen Zyprioten dagegen stimmen werden, läuft es auf einen De-facto-Verhandlungsstopp hinaus.
JÜRGEN GOTTSCHLICH