: Theater ist ein Fake
REGIE Katie Mitchell hat eine einzigartige Methode entwickelt, Film, Sound und Theater zusammenzubringen. In Köln hat heute ihr Virginia-Woolf-Stück „Die Wellen“ Premiere
VON ALEXANDER HAAS
Sie hat dieses prächtige, laute Lachen, das so gar nicht zu ihren Inszenierungen passen will. Denn Katie Mitchells ästhetische Vorlieben liegen nicht gerade bei der Komödie. Sie bevorzugt das dunkle Genre. Franz Xaver Kroetz’ „Wunschkonzert“ von 1971 über eine deprimierte Selbstmörderin hat sie für das Schauspiel Köln ausgegraben und wurde damit 2009 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Heute bringt sie in Köln ihre zweite Bearbeitung von „Die Wellen“ auf die Bühne, nach Virginia Woolfs experimentellem Roman von 1931. 2006 hat Mitchell ihn am Londoner National Theatre zum ersten Mal auf die Bühne gebracht. In eher dunklen Farben, versteht sich.
Woolfs Roman, ein früher Meilenstein in der Entwicklungsgeschichte des inneren Monologs, handelt von sechs Menschen und ihrem Lebensweg. Wenn Mitchell „Wunschkonzert“ und „Die Wellen“ vergleicht, sagt sie: „Mich interessieren die intensiven existenziellen Themen, die beide Stücke durchziehen. In beiden geht es um Tod, Verzweiflung, Depression, Liebe, Einsamkeit.“ Hinter so einen schweren Satz setzt sie gleich wieder ihr prächtiges Lachen. Ist das englischer Humor? Mit schallendem Lachen über die dunklen Seiten des Lebens zu reden?
In England ungeliebt
Zu Hause in London, wo die Regisseurin von der Presse nicht gerade geliebt wird, nannte der Daily-Telegraph-Kritiker Charles Spencer sie „princess of the darkness“. Ihre Großmutter hat sich mächtig über den Ausdruck geärgert, sie selbst nimmt es gelassen. Auch hierzulande haben männliche Kritiker angesichts ihrer melancholischen Inszenierung von Strindbergs „Fräulein Julie“ an der Berliner Schaubühne die Frage gestellt, ob es „so etwas wie eine weibliche Theaterästhetik, diesen Leidensgenuss“ gebe, „diesen unaufhaltsamen Drang ins Dunkle“. „Es ist interessant“, kontert Mitchell, „dass jemand das als weiblich wahrnimmt. Das sagt eine Menge über den aus, der das sagt.“ Lautes Lachen.
Dass die unbeschwert wirkende Regisseurin nicht nur eine Vorliebe für schwere Stoffe hat, sondern auch einen besonderen Zugriff, steht allerdings fest. Video, technisch elaborierter Off-Sound und Schauspieler als Geräuschemacher auf der Bühne sind im Gegenwartstheater zwar oft zu sehen. Doch so wie Mitchell ihren Einsatz praktiziert, durch die uhrwerkgleiche, geradezu forensische Präzision, die feine Orchestrierung und Abstimmung dieser Mittel, wird ihr Gebrauch einzigartig.
Das herkömmliche Theater tritt bei Mitchell völlig in den Hintergrund. Die entscheidenden Figuren sind die Leute des Videoteams. Auf offener Bühne gehen sie mit ihren Kameras durch die Szene, bauen sie an bestimmten Positionen auf, machen ein paar Shots, um sie an anderer Stelle erneut aufzubauen und dort zu filmen. Sie nehmen die Gesichter der Spieler auf, Blickachsen durch Räume, Kulissen, Requisiten, den Einfall des Lichts. Die Bilder werden auf eine große Leinwand projiziert, auf dem das Publikum sie verfolgt.
Mitchell wählt gerne Stücke, in denen es keine Dialoge gibt. Wie in Kroetz’ „Wunschkonzert“, dessen Text nur aus einer seitenlangen Regieanweisung besteht. Kroetz beschreibt penibel, wie seine Hauptfigur Fräulein Rasch vom Büro nach Hause kommt, zu Abend isst, stumm vor sich hin stickt und hin und wieder ins Badezimmer geht, um einen Pickel zu behandeln und dabei das am Ende tödliche Röllchen Schlaftabletten aus dem Schränkchen zu nehmen und zu betrachten.
Amputierte Bilder
Mitchell hat in ihrer Kölner Inszenierung Fräulein Raschs Wohnraum auf die Bühne gestellt. Gefilmt werden das Gesicht der Schauspielerin Julia Wieninger und ihre Hände, wie sie einen Brief öffnen oder eine Zigarette halten. Das Besondere und Seltsame daran: Diese Verrichtungen führen die anderen Schauspieler aus, die als Geräuschemacher und Doubles für die Hauptfigur auf der Bühne sind. Die Kamera zielt immer nur auf ein Detail, das dann auf der Leinwand übergroß als ein zu Fräulein Rasch Zugehöriges erscheint. Dieses Vorgehen hat etwas von einer Amputation, der Zuschauer muss sich das Gesamtbild dessen, was er sieht, selbst zusammenstückeln. Totalen gibt es in diesem Theater höchst selten. Es lebt vom penibel beobachteten Detail, die Kulissen und Requisiten sind bis ins Letzte der Entstehungszeit der Vorlage angepasst.
Mitchell hat bis vor einigen Jahren auch herkömmliche Stücke konventionell inszeniert. Doch sie misstraute dem well made play immer mehr. „Ich war nicht mehr zufrieden damit, wie diese Stücke unsere Erfahrung und Wahrnehmung wiedergeben“, sagt sie. Beides seien für sie viel chaotischere Prozesse. Mit ihrer Methode hat sie eine Möglichkeit gefunden, mit der sie das Chaos der Wahrnehmung und Erfahrung für sich angemessen darstellen kann. Das ist auch für die Umsetzung der „Wellen“ entscheidend, Woolfs Roman ist beherrscht von der Überfülle der menschlichen Perzeption.
„Ich möchte unbedingt anerkennen, dass Theater ein Fake ist“, sagt Katie Mitchell. Wir sehen in ihren Arbeiten, wie Schauspieler ausschnitthaft gefilmt werden und das Ergebnis davon in Szenen oder Standbildern auf einer Leinwand. Diese Bilder sind reines Kino. Allerdings haben wir Sekunden zuvor, beinahe gleichzeitig, ihre vielschichtige Verfertigung angestrengt und fasziniert beobachtet. Das eine geht im artifiziellen Kinotheater von Katie Mitchell nicht ohne das andere.
■ Nächste Termine: 19., 20., 24. 2.