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Archiv-Artikel

Harfenklänge ohne Kitschfaktor

Das neue Album von Joanna Newsom „Ys“ ist das musikalische Ereignis dieser Saison. Die Vierundzwanzigjährige mischt britischen Folk mit orchestralem Sound und nöliger bis piepsender Stimme, ohne dabei zu sehr ins Theatralische zu kippen

„Ich habe es satt, über die Harfe zu sprechen. Ich liebe dieses Instrument“

VON GREGOR KESSLER

Irgendetwas hätte jetzt zerspringen müssen. Das billige Hintergrundgedudel in dieser billigen Hotelbar hätte verstummen und ein paar der in den Sesseln hängenden Gestalten sich verstört umwenden müssen. Soeben geschah, was man sich lange ausgemalt hatte: Joanna Newsoms Mund hat sich geöffnet! Doch weder friert die Zeit ein, noch lässt eine der Bedienungen vor Schreck ein Glas fallen. Joanna Newsom spricht und das Hotelbarleben geht weiter. Sie sagt „Sorry for keeping you waiting“, und in der dünnen amerikanischen Mädchenstimme schwingen nur Spurenelemente dessen mit, was man erwartet hatte.

Als Joanna Newsom vor zweieinhalb Jahren auf ihrem Debütalbum „The Milk-Eyed Mendor“ zum ersten Mal öffentlich den Mund aufmachte, entwichen ein paar sehr irritierende Laute. Da war plötzlich ein Kratzen scharf wie Schotter auf Schiefer, ein Schaben, nasal wie Philip Seymour Hoffman als Truman Capote. Die Stimme kippte ins nölend Schräge und flatterte in piepsende Höhen. Sie stürmte über die Bandbreite der Töne, wie ein ausgelassener Hund über eine große Wiese. Diese Stimme hatte kein Alter, oft hatte sie auch kein Geschlecht, aber auf schwer erklärliche Weise hatte sie etwas sehr Berührendes.

Heute, in dieser Hamburger Hotelbar, will Joanna Newsom nicht darüber sprechen, wie sie singt. Sie habe eben erst spät damit angefangen, und dann seien diese kauzigen Geräusche herausgekommen. Eigentlich will sie auch nicht über ihr neues, ziemlich überwältigendes Album „Ys“ sprechen. Viel zu persönlich sei das, viel zu intim für all die groben Journalisten mit ihren tumben Fragen. Das hatte sie mit ihrem Label Drag City auch schon abgesprochen: keine Interviews. War okay.

Doch dann überlegte Joanna Newsom, was sie mit ihren 24 Jahren getan hatte. Sie hatte ein paar der gefragtesten Menschen des Musikgeschäfts für ihre Platte gewonnen: Der Meister des trockenen, unmittelbaren Akustiksounds, Steve Albini, nahm ihre Harfe ab, der Gott der flirrenden Orchestrierungen, Van Dyke Parks, schrieb ihr eine Partitur für ein dreißigköpfiges Orchester, und Jim O’Rourke, der genug technischen Überblick und ästhetische Vision besitzt, aus ein paar Dutzend Tonspuren ein episches Klangbild zu malen, mischte alles zusammen. Newsom dachte daran, dass ihr Label, der mittelgroße Indie Drag City, für die Aufnahmen von „Ys“ mehr Geld bezahlt hatte als für jede andere Veröffentlichung. Sehr viel mehr. Und sie überlegte, dass es ihre neuen Stücke, die alle zwischen 7 und 16 Minuten lang sind, im Radio schwer haben würden. Das schlechte Gewissen packte sie. Also sitzt sie nun hier, in einem ihrer Thrift-Store-Kleider, das vor 100 Jahren in den Appalachen genäht worden sein könnte, und mit Prinzessin-Leia-Hochsteckfrisur, und der Journalist gegenüber schlägt ihr eine tumbe Harfenfrage ins Gesicht. „Ich habe es satt, über die Harfe zu sprechen. Ich liebe dieses Instrument. Ich wollte es spielen, seit ich drei bin. Ich spiele es, seit ich sieben bin. Aber es ist nur ein Instrument.“ Ist es nicht. Nicht, wenn sie es spielt. Eine Akustikgitarre wird auch mehr als eine Akustikgitarre, wenn John Fahey seine Finger darüberwieseln lässt.

Wenn Joanna Newsom die Harfe spielt, fliegen da nicht die üblichen Glissandischlieren durch die Luft, wie Saccharosefäden im Zuckerwatteautomaten. Sie zupft mit zehn Fingern, lässt Melodien und Rhythmen aneinander vorbei-, umeinander herum- und schließlich gegeneinanderlaufen, bis man Schwierigkeiten hat, zu begreifen, dass hier tatsächlich nur ein einzelner Mensch spielt.

Das machte „The Milk-Eyed Mendor“ vor zwei Jahren zu einer jener seltenen Entdeckungen. Dies war andere Musik. Sie durchkreuzte Hörgewohnheiten und verschaffte sich dadurch Gehör. Spröde und kauzig war sie, so wie die Stücke des Banjospielers Dock Boggs in den 20ern spröde waren. Aber gleichzeitig doch aufrichtig und herzrührend. Newsom wurde zur Galionsfigur der so genannten New-Folk-Bewegung. Sie ging mit Devendra Banhart, Smog und Bonnie „Prince“ Billy auf Tour, und ihr Debüt ließ so viele Köpfe herumzucken, dass es sich bislang beeindruckende 100.000-mal verkaufte. Man kann in „Ys“ das Gegenteil zu „Milk-Eyed Mendor“ sehen. Man kann das Verhältnis zwischen Joanna Newsoms zweitem Album und ihrem Debüt aber auch als das zwischen grauem Entlein und grazilem Schwan beschreiben. Wo das Debüt karg und reduziert klang, ist Newsoms zweites Album farbenfroh und opulent. Vor zwei Jahren kam sie wie ein eigenbrödlerisches Hippiemädchen aus Nordkalifornien daher, nun führt sie souverän ein ausgewachsenes Orchester. Die Stücke haben sich von klassischen Dreiminutensongs zu viertelstündigen Folkepen ausgewachsen. Evolution in Fast Forward.

Der Auslöser dafür, sagt Newsom, waren vier kurz aufeinanderfolgende Ereignisse in ihrem Leben. „Das Einschneidendste war der Tod von jemandem, der mir so nah stand wie eine Schwester. Die anderen drei waren nicht ganz so erschütternd, aber doch gravierend genug. All das geschah innerhalb eines Jahres, und am Ende dieses Jahres begann ich, diese Platte zu schreiben.“ Katharsis also? Ja, aber auch Gedächtnisarbeit. „Ich hatte Angst, dass wenn ich all dies überleben würde, ich irgendwann meiner eigenen Erinnerung nicht mehr glauben könnte, wie schmerzhaft und intensiv es tatsächlich gewesen war.“

Entsprechend groß sollten die Monumente ihres Leidens werden. „Kürzere Songstrukturen hätten nicht aufnehmen können, was ich erzählen wollte. Die Stücke mussten lang werden.“ Weil Newsom in ihren Texten nicht explizit werden wollte, suchte sie einen neuen Überbau. „Die Geschichten hinter den Songs sind für die Hörer durch die Lyrics nicht zugänglich, also brauchte ich eine neue, universelle Ebene, die das Thema verstärkte und die Platte gleichzeitig hörenswert machte.“ Das Orchester!

Newsom schwebte eine kühne Platte wie „Song Cycle“ vor. Das größenwahnsinnige Solodebüt des zum Musiker gewandelten Produzenten Van Dyke Parks verband 1967 amerikanische Popmusik in ihrer gesamten Breite mit den Möglichkeiten des Orchesters. Der populärste und zugleich unermüdlichste Lobpreiser dieses Albums heißt Jim O’Rourke, ebenfalls Produzent und Musiker. Er war es, den Joanna Newsom sich als alleinigen Geburtshelfer ihrer Vision wünschte. Da kannte sie noch nicht seinen Kalender. „Keine Zeit für das ganze Projekt“, sagte O’Rourke, bestenfalls das Mixen könne er übernehmen. Also schlug jemand vor: Warum den Umweg über den Jünger nehmen, wenn man auch den Propheten fragen kann? Drag City riefen Van Dyke Parks an.

„Ich hatte mir dieses kleine Hotelzimmer in Los Angeles genommen und eine Harfe gemietet“, sagt Newsom. „Ich war sehr nervös, als Parks und seine Frau Sally ankamen, um sich meine Songs anzuhören. Ich kannte Van Dyke Parks nur als diesen großen Stern am Musikfirmament. Doch ich war kaum beim zweiten oder dritten Stück, da sprang Parks auf und sagte: ‚Ich mach’s!‘“ Die nächsten sechs Monate pflegten Newsom und Parks eine intensive Brieffreundschaft. „Er schickte mir Arrangements, die er mit seinem sehr alten Synthesizer einspielte. Es gehörte Fantasie dazu, sich vorzustellen, wie diese seltsamen Töne klingen würden, wenn ein Orchester sie spielen würde. Ich schickte ihm seitenlange Anmerkungen und Änderungswünsche zurück.“ Es gab Diskussionen und Auseinandersetzungen. Es gab Streit. „Weil mir dieses Material so ungeheuer wichtig war, hatte ich eine sehr genaue Vorstellung davon, wie es klingen sollte, und ich war nicht bereit, auch nur einen Deut von dieser Vorstellung abzuweichen. Natürlich hatte auch Van Dyke Parks seine eigenen Vorstellungen. Normalerweise bin ich kein sturer Mensch, aber in diesem Fall hat mir diese Sturheit geholfen, die Platte so klingen zu lassen, wie ich sie klingen lassen wollte.“

Wie diese Platte klingt? Nicht gar so sakral wie das vor Symbolen strotzende Cover auf dem Newsom wie eine Uma Thurman in Öl aus dem 16. Jahrhundert thront, vermuten lassen könnte. Aber doch mit genug traditionellen britischen Folkelemente, um regelmäßig an Fairport Convention oder die Incredible String Band zu erinnern. Die Appalachenanleihen des ersten Albums sind weit zurückgedrängt, hätten sich auch schlecht mit dem Orchester vertragen. Und nicht mit diesen komplexen Arrangements: Sie lassen die Stücke springen und stürzen, wirbeln und wehen wie Blätter in einem neckenden Herbstwind. Im Zentrum – von Steve Albinis Aufnahmezauberei fest verankert – steht der Klang der Harfe. Und diese Stimme, die abstrakte, märchenhafte Texte vorträgt. Sie geben nur eine vage Ahnung von dem großen Dunkel, das sie geboren hat.

Mit Popmusik hat all dies nur am Rande zu tun. Popmusiker spielen auch kaum Harfe, sie studieren selten Komposition und Creative Writing. Und nur sehr, sehr wenige Popmusiker nehmen jemals eine Platten auf, bei der man nach dem dritten Hören weiß: Etwas Besseres wird es diese Saison nicht mehr geben.