: Club der Retrovisionäre
Entdeckungen und alte Bekannte: Mit der Galerie Nord schiebt sich in der Turmstraße Kunst zwischen Wettbüros, Handyshops und Kebapläden. Heute eröffnet eine Ausstellung über Angst und Macht
von DETLEV HOLLAND-MORITZ
Schon eigenartig, dass man neuerdings diese weit gestreckten White Cubes mit der breiten Schaufensterfront immer mit der Erwartung betritt, hier sei es möglich, eine Leere zu füllen. Vor einigen Tagen noch wurde in den hellen Räumen der Galerie Nord auf der Turmstraße in Moabit über den schamanistischen Performance-Ansatz von Beuys geredet: darüber, wie man sich öffnet, wie man vor fremden Augen Wirkung erzielt, und über die Verschulung der Kunstform Performance in Hochschulen und Workshops.
Das war während des Podiumsgesprächs: „Ist Performance-Kunst vermittelbar?“ im Rahmen der „Performance Tage Moabit M. 3: Zündverteiler“. Plötzlich sah man sie wieder vor sich, die Schafe, die irgendwann in den 80er-Jahren durch die Fabriketage des Frontkinos auf der Adalbertstraße in Kreuzberg gescheucht wurden, als die Künstlergruppe Die Tödliche Doris dort ihre Partys abhielt und Performance noch zu den „alternativen“ Künsten zählte. Man erinnerte sich der Rolle, die das Künstlerhaus Bethanien mit seinen Veranstaltungen damals spielte: Ars Longa Vita Brevis, Performance und kein Ende. Und wie man sich mit lauter schrägen Einfällen, Spielfreude und Spontaneität in andere gesellschaftliche Räume hinein verbreiterte.
„Dich kenn’ ich auch noch aus dem Dschungel“, spricht einen die Travestiekünstlerin Bridge Markland im Laufe des Abends in der Galerie Nord an. Es ist schon seltsam, was so ein Ort, der ja vom Kunstverein Tiergarten in Kooperation mit dem Bezirksamt getragen wird, auslöst, wenn er solche Begegnungen möglich macht. Man ist ja inzwischen familiär geworden mit denjenigen, die sich nun über lange Jahre im Schein von 1.000-Lux-Leuchtstoffröhren durch die einschlägigen Galerien der Stadt bewegen. Neuerdings auch im ansonsten eher kontaktarmen, nicht gerade mit Schnittstellen zur Kunst gesegneten Moabit.
Wenn sie nur nicht immer diese Fernsehgesichter machen würden, darauf aus, gleich auf Sendung zu gehen in einer eigenen Show, die Performance-Profis dieses Abends. Ihre Darbietungen tragen Titel wie „Tesa Of The Universe/Kultur Komposting“ (Steffen Modrow) oder „Autobombenrennen“ (Kain Karawahn). Nur Anja Ibsch, die in einem tastenden Ritual versucht, Dinge christlicher Symbolik zusammenzufügen – Fische, Äpfel, Weingläser, Sesamkringel –, schweigt zu ihrem Kraftakt. Am Ende wird sie mit blutenden Knöcheln dastehen, vom Zerkleinern der Weingläser.
Auf die Kreuzigungspose, die sie in der breiten Fensterfront zur Straße hin einnimmt, reagieren einige vorbeigehende Türken mit ratlosen Blicken. Kunst im Kontext – das heißt für die Galerie Nord, die ja so etwas wie eine Kommunale Galerie ist für Moabit, auch immer Arbeit am Sozialen und zugleich offen bleiben für vieles. Ihr Kurator, Ralf F. Hartmann, weiß, wie Öffentlichkeit in diesem kulturell eher unzugänglichen Bezirk beschaffen ist, der von Handyshops und Kebapläden dominiert wird.
Das konnte man zum Beispiel im Februar bei der Präsentation „Die Sammlung Richard. Meistergraphik des 20. Jahrhunderts“ merken. Das war der Versuch, über einen Querschnitt der populären Kunst der 60er- und 70er-Jahre, mit all den Rauschenbergs, Johns, Richters und Vostells, so etwas wie Niveau in diese kulturelle Diaspora hinein zu vermitteln, deren herausragende Events ansonsten die Turmstraßenfeste mit ihren regelmäßigen Wahlen zur Miss Moabit sind. Das war man gar nicht gewohnt, das hatte man hier noch nie erlebt.
Jemand, der die Phase der Pop Art und des Nouveau Réalisme selbst miterlebt hatte, fühlte sich da plötzlich so ein bisschen als Retrovisionär und als ob er in die eigene Pop-Vergangenheit eintauchen würde, mit Warhols ornithologischem Musterkontingent „Happy flyaway days“ von 1956.
Nach der Ausstellung „Territories. Les lacets sont défaits“, die sich im Oktober noch kritischen Urbanismusdiskursen widmete, wird jetzt die Themenausstellung „Von der Angst“ den Faden dessen weiterspinnen, was zum täglichen Erfahrungsspektrum zwischen Kleinem Tiergarten und Westhafenkanal zählt: Die „bewusst kalkulierten Szenarien der Ökonomie und Politik“, die „Angst zum integralen Bestandteil funktionierender Machtstrukturen und berechenbarer kollektiver Verhaltensweisen werden lassen“, wie es der Flyer ankündigt.
Und auch zu diesem Eröffnungsabend wird man sich wieder in der Galerie Nord einstellen, die Exponate angucken und sich ein Urteil bilden. Das allein ist schon viel. Aber man wird auch dieses Mehr an Ausgehmöglichkeiten für den in dieser Hinsicht unterbelichteten Bezirk wieder empfinden und vor dem Eingang eine Zigarette rauchen und Ausschau halten nach Freunden und Bekannten, die auch aus anderen Stadtteilen plötzlich nach Moabit finden.
„Von der Angst“. Eröffnung heute, bis 2. Dezember, Di. bis Sa. 14–19 Uhr, Kunstverein Tiergarten/Galerie Nord, Turmstraße 75
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