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Archiv-Artikel

Invasion der Bürokraten

Vor vier Jahren hat Hergatz im Allgäu die Parteien abgeschafft. Die Bürger träumten von einer Politik ohne Kontroversen. Sie bekamen einen Wahlkampf der Verwaltungsfachwirte

AUS HERGATZ BERNHARD HÜBNER

Dem Kandidaten ist das Mikrofon aus dem Ständer gefallen. Philipp Kyewski will es wieder in Ordnung bringen und fummelt nervös daran herum, 15, 20 Sekunden lang. Dieser 24-Jährige mit dem etwas zu großen Anzug will also Bürgermeister werden. Vor ihm in der großen Turnhalle sitzen 500 Bürger. Sie wollen die drei Kandidaten hören, unter denen sie am Sonntag ihren neuen Bürgermeister wählen sollen. Die Bürger warten auf Antworten. Sie wollen wissen, wie es weitergehen soll in Hergatz.

Kyewski spricht leise: „Ich habe mir den Haushaltsplan angesehen. Der ist so eng, dass ich eigentlich gar nichts versprechen kann.“

Nach fünf Minuten ist klar, dass es heute keine Antworten geben wird. Ist das der Preis für die Ruhe? Hergatz im Allgäu hat 2.500 Einwohner und liegt idyllisch zwischen grünen Hügeln und saftigen Kuhweiden. In den 1970er-Jahren fusionierten die Dörfer Maria-Thann und Wohmbrechts zur Gemeinde Hergatz. Ab und an gibt es deshalb noch immer zwischen beiden Streit. Die Gemeinde hat 1,9 Millionen Euro Schulden. Die Kanalisation müsste saniert werden. Der Turnverein wünscht sich ein neues Hallendach. Der Lkw-Verkehr durch die Dörfer macht Probleme.

Es sind dieselben Schwierigkeiten wie in vielen anderen Gemeinden. Aber der Gemeinderat von Hergatz hat eine ungewöhnliche Lösung gefunden.

Früher dominierten im Gemeinderat – wie in den meisten bayerischen Gemeinden – die CSU und die Freien Wähler. Zusammen stellten sie einen Bürgermeister, der 24 Jahre lang an der Macht blieb. Er hatte manchmal wenig Fingerspitzengefühl. Der Feuerwehr von Wohmbrechts besorgte er ein teures neues Löschfahrzeug, die Feuerwehr aus Maria-Thann protestierte gegen diese Ungerechtigkeit. Statt des traditionellen Maibaums stellte sie theatralisch ein Mahnmal auf. Ein neues Feuerwehrauto gab es trotzdem nicht. Am Ende seiner Amtszeit hatte sich der Bürgermeister viele Feinde im Ort gemacht. Als er vor vier Jahren aufhörte, versuchte man einen Neuanfang – ohne Parteien.

Die Politiker gründeten eine „Gemeinsame Liste Hergatz“ (GLH). Die Menschen im Dorf Wohmbrechts wollten aber nicht bei der Einheitsliste mitmachen. So gibt es seitdem zwei Fraktionen: die GLH und die Unabhängige Bürgerliche Liste (UBL). Es wurde ein Wahlkampf Dorf gegen Dorf: Die UBL aus Wohmbrechts gegen die GLH aus Maria-Thann. Der UBL-Kandidat wurde zum Bürgermeister gewählt. Er war 34 Jahre alt und kam von außerhalb. Er kaufte endlich auch der Feuerwehr von Maria-Thann ein neues Fahrzeug.

Er berief aber auch Sitzungen ein, für die manchmal nur ein einziger der 14 Gemeinderäte Zeit hatte. Oder er verschwand für Tage, ohne sich abzumelden. Und er verkaufte das wertvolle Bauland von Hergatz zu Niedrigpreisen. Nach einem halben Jahr begann die GLH-Mehrheitsfraktion, dem Bürgermeister das Leben schwerzumachen. Sie legte Dienstaufsichtsbeschwerden gegen seine Entscheidungen ein. Diesen Sommer kandidierte er für den Bürgermeisterposten in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg und wurde gewählt. Zum Abschied hatte er für den Hergatzer Gemeinderat nur ein Wort übrig: „Intrigantenstadl.“

Günther Schmalzl redet lieber von den ruhigen Sitzungen im Gemeinderat und den vielen einstimmigen Entscheidungen. Bis ein Nachfolger gefunden ist, ist er der Bürgermeister. Schmalzl hat einen Spitzbart und trägt einen kleinen Ohrring. Im Hauptberuf ist er Tischler. Einen Stapel mit Akten, dem ihm die Sekretärin auf den Tisch gelegt hat, schiebt er schnell zur Seite. Vor ihm liegt jetzt ein Ortsplan von Hergatz. Das Titelbild zeigt eine Kuh, die ihre Zunge herausstreckt. Dieser Ort braucht also einen neuen Bürgermeister. Und diesmal soll es irgendwie klappen mit dem Frieden. „Der Wahlkampf vor vier Jahren war nicht sehr erbaulich“, meint Schmalzl. „Also haben wir uns überlegt, dass es das Beste ist, wenn wir als Gruppierungen im Gemeinderat keine Kandidaten mehr aufstellen.“ So suchten die Fraktionen gemeinsam in ganz Süddeutschland nach potenziellen Bürgermeistern – per Zeitungsanzeige.

Zwölf Bewerber wurden zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, vier nominiert. Für jeden wurde eine eigene Wählergruppe gegründet – das ist das im Wahlrecht vorgeschriebene Minimum an Partei. Einer der Kandidaten ist kurz vor der Wahl ausgestiegen. Bleiben noch drei. Keiner von ihnen kommt aus Hergatz. Keiner wird von einer Partei unterstützt. Und alle drei haben den selben Beruf: Verwaltungsfachwirt. Denn der nächste Bürgermeister soll ein unabhängiger behördenerfahrener Manager sein, der pragmatisch Probleme löst – so wünscht es sich Günther Schmalzl. Er möchte auch keine Dienstaufsichtsbeschwerden mehr einlegen müssen, damit der Bürgermeister ihn und seine Gemeinderatskollegen ernst nimmt.

Das macht Heinz Baum zu einem perfekten Kandidaten. Er ist 43 Jahre alt und arbeitet seit 25 Jahren in der Kommunalverwaltung. Seine Wahlkampfzentrale ist ein Zimmer in einer Ferienpension, er selbst sein einziger Mitarbeiter. Baum trägt eine selbsttönende Brille, sein Hemd steckt streng in seiner Hose. Von der Terrasse aus blickt er auf eine Wiese voller Kühe, sie haben Glocken um den Hals. So idyllisch sei es bei ihm daheim nicht. Die Drogenprobleme aus dem nahen Frankfurt spürt er auch in seinem Dorf. Und weil es zu seinem jetzigen Job gehört, Scheinehen zu annullieren und damit auch Menschen abzuschieben, werden er und seine Familie bedroht. Hergatz soll ein Neuanfang werden.

Dafür hat Baum schon an der Hälfte aller Türen in der Gemeinde geklingelt, um sich vorzustellen und seinen Prospekt zu überreichen. Er hat ihn selbst drucken lassen. Weil keine Partei den Kandidaten hilft, hängen in Hergatz auch keine Wahlplakate – zu teuer, um sie aus der eigenen Tasche zu bezahlen. Nur in ein paar Schaufenstern kann man das Foto von Heinz Baum sehen. Und sollte er die Wahl gewinnen, dann wäre er Bürgermeister, ohne dass er im Gemeinderat eine Gruppe auf seiner Seite hätte – ein Problem? „Jeder Gemeinderat ist seinem Gewissen verpflichtet“, erklärt Baum. Und dann habe ein Bürgermeister ja noch ein Mittel: die „rechtsaufsichtliche Prüfung“. Die hat Günther Schmalzl bei seiner Vision vom friedlichen Miteinander nicht bedacht.

„Das ist doch eine Krankheit“, schimpft Georg Leipolz und schüttelt den Kopf. Die Wahlprospekte der aktuellen Kandidaten liegen vor ihm auf dem Tisch. Gerade hat er seine neun Kühe in den Stall gebracht. Er lebt allein auf einem Bauernhof an der Bundesstraße. Aus dem Schrank zieht er eine Mitgliederliste seiner Partei. Georg Leipolz ist seit dem 1. Juli 1957 in der CSU. Jetzt ist Leipolz Ortsvorsitzender einer Partei, die sonst fast überall in Bayern das Sagen hat, aber in Hergatz weder einen Gemeinderat noch einen Bürgermeisterkandidaten stellt. Die jungen Mitglieder schlossen sich vor vier Jahren der Gemeinsamen Liste an, der Bürgermeisterkandidat der CSU verlor. Seitdem kann Leipolz nur zuschauen, wenn in Hergatz Politik gemacht wird.

„Demokratie baut doch darauf auf, dass man über Parteien seine Interessen in die Politik hineinträgt“, meint er. „Und was nützt uns eigentlich ein Bürgermeister, wenn keine Mehrheit im Gemeinderat hinter ihm steht?“ Er hat Pläne. Er will die CSU in Hergatz wieder stark machen. 22 aktive Mitglieder hat er schon. Aber der Bürgermeister wird erst wieder in sechs Jahren gewählt.

Auf der Bühne in der Turnhalle werden gerade die Kandidaten vorgestellt. Der Verwaltungsbeamte Heinz Baum lächelt wie auf seinem Wahlprospekt – die Mundwinkel gerade. Der Verwaltungsbeamte Uwe Giebl nickt bescheiden. Der Verwaltungsbeamte Philipp Kyewski verbeugt sich schüchtern. Der Moderator macht sich auf die Suche nach den elementaren Unterschieden zwischen den Bewerbern. „Werden Sie neue Schulden aufnehmen?“ Heinz Baum sagt: „Mit mir wird es keine neuen Schulden geben.“ Uwe Giebl: „Ich werde keine Schulden aufnehmen.“ Philipp Kyewski: „Wir dürfen keine Schulden machen.“ Welchen Führungsstil haben die Kandidaten? „Ich möchte mich kollegial verhalten“, sagt Kyewski. „Erstrebenswert ist ein kooperativer Führungsstil“, findet Baum. „Mein Führungsstil ist teamorientiert-autoritär“, verkündet Giebl.

Sie reden drei Stunden lang über EU-Fördertöpfe, die Verabschiedung einer Abwasserverordnung, den Tarifvertrag im öffentlichen Dienst, das Eisenbahnstraßenkreuzungsgesetz – und die „Straßenausbaubeitragssatzung“. Für die Bürger heißt das übersetzt, dass sie für den Erhalt der Straßen zu ihren Häusern zahlen sollen. Als der Moderator die 500 Schweigenden fragt, wer von ihnen denn für diese Satzung sei, hebt ein Mann seine Hand. Ein einziger im ganzen Saal. Der Bürgermeister müsse sich aber an diese Satzung halten, erklärt auf der Bühne Heinz Baum. Die Satzung sei im Prinzip bindend, meint Uwe Giebl. Die Satzung müsse vollzogen werden, findet Philipp Kyewski.

Die 500 im Publikum werden unruhig. Sie wünschen sich unbürokratische Lösungen für ihre Probleme. Die drei auf der Bühne wollen aber Verträge einhalten, Verordnungen umsetzen, Satzungen befolgen. Die Kanalsanierung wird Gebühren kosten, sagen sie und gegen das Verkehrsproblem könne man kaum etwas machen. Und das marode Turnhallendach? „Da könnte man doch Ehrenamtliche einsetzen“, sagt Heinz Baum plötzlich. Endlich eine Idee. Zum ersten Mal so was wie Begeisterung bei den Zuschauern. Will er das wirklich versprechen? Der Beamte macht eine lange Pause, so als wäre ihm sein unbürokratischer Vorschlag selbst nicht geheuer. „Ich verspreche“, sagt er dann und holt tief Luft, „ich werde diesbezüglich eine Projektgruppe einsetzen.“