Das Rettungsseil gekappt

Der künftige Status des Kosovo steht nun zur Debatte. Doch für die Zukunft wichtiger ist, wie sich die Wirtschaftskrise aufgrund ausbleibender Arbeitsmigration auffangen lässt

Das Kosovo kann nicht überleben, wenn Europa die Tür für jede Einwanderung weiter verschließtWenn die Probleme im Kosovo bleiben, dann werden wütende junge Männer die Agenda bestimmen

Die aktuellen Debatten, die sich vorwiegend um den zukünftigen Status des Kosovo drehen, verfehlen das vermutlich wichtigste Entwicklungsproblem, dem sich das Land heute gegenübersieht. Das hat zur Folge, dass eine der destabilisierendsten Entwicklungen, die das Kosovo auf Generationen hinaus prägen wird, von den Entscheidungsträgern, die für Stabilität und Wohlstand im Kosovo verantwortlich sind, völlig übersehen zu werden droht: Gemeint ist das Ende der Ära der Massenauswanderung.

Dass die Wirtschaft des Kosovo maßgeblich durch Finanztransfers aus der Diaspora gespeist wird – diese Auffassung ist seit dem Krieg weit verbreitet. Politische Entscheidungsträger gehen von der bequemen Annahme aus, die Diaspora und ihre sagenhafte Großzügigkeit werde nicht nur weiter eine wesentliche Lücke in Kosovos Zahlungsbilanz füllen. Sie hoffen, dass diese darüber hinaus ein informelles soziales Sicherungssystem für mittellose Haushalte bereitstellen und so die Abwesenheit eines Wohlfahrtstaates kompensieren könnte.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Die Finanztransfers haben seit dem Ende des Kosovokriegs, als sie den Wiederaufbau von Häusern überall im Land finanzierten, deutlich abgenommen. Der Grund dafür ist offensichtlich: Seit der Nato-Intervention 1999 hat sich die Auswanderung aus dem Kosovo ins Gegenteil verkehrt, da mehr als 100.000 kosovo-albanische Flüchtlinge zur Rückkehr insbesondere aus Deutschland verpflichtet wurden.

Darüber hinaus ist das Tor zu weiterer Auswanderung nun verschlossen. Nur einige wenige Kosovaren mit enger Verwandtschaft in der Diaspora können über Familiennachzug ins Ausland gehen. Dies hat zur Folge, dass nun weniger als 15 Prozent aller kosovarischen Familien regelmäßige Finanztransfers erhalten – und alle Zeichen deuten darauf hin, dass dieser Prozentsatz weiter abnimmt. Das Rettungsseil, das das ländliche Kosovo der vergangenen Generationen über Wasser hielt, wird damit gekappt. Mit diesem Vermächtnis wird sich das Kosovo nach dem Statusentscheid konfrontiert sehen.

Für die EU-Mitgliedsstaaten ist das eine unwillkommene Botschaft: Denn es stellt einen Widerspruch dar, hunderte Millionen Euro in die Stabilisierung des Kosovos zu investieren und zur selben Zeit die Tür für weitere Einwanderung abrupt zuzuschlagen. Noch widersprüchlicher ist es, dass dies einem kleinen Land wie dem Kosovo (weniger als zwei Millionen Einwohner) widerfährt, während zur selben Zeit Millionen von Rumänen, Bulgaren, Letten und Polen in verschiedenen Teilen der Europäischen Union Beschäftigung finden.

Derzeit beschränken einige EU-Mitgliedsstaaten wie Deutschland, aber auch die Schweiz die Arbeitsmigration sogar für Bürger von Ländern, die seit 2004 EU-Mitglieder sind und deren Volkswirtschaften rasch wachsen. Vor diesem politischen Hintergrund mag es vermessen erscheinen, in Europa ein ernsthaftes Nachdenken über Arbeitsmigration aus dem Kosovo anzuregen zu wollen. Doch was ist die Alternative? Der Versuch, die kosovarische Gesellschaft in Abwesenheit jeglicher positiver wirtschaftlicher Dynamik stabilisieren zu wollen, stellt nichts weniger als eine Donquichotterie dar.

Wenn Europa es ernst damit meint, eine dauerhafte politische Lösung für das Kosovo zu finden, wird es Möglichkeiten für Kosovaren schaffen müssen, zeitweilig Arbeit im Ausland aufzunehmen. Die Alternative besteht darin, immer mehr Sicherheitskräfte in das Kosovo zu entsenden, um eine neue Generation wütender und verzweifelter junger Männer in Schach zu halten.

Auch für die Politiker im Kosovo ist das eine unangenehme Erkenntnis. In der Nachkriegszeit gaben sie sich mit der bequemen Vorstellung zufrieden, die Finanztransfers einer spendablen kosovo-albanischen Diaspora seien in der Lage, das ländliche Kosovo über Wasser zu halten; trotz der Abwesenheit einer glaubwürdigen landwirtschaftlichen oder ländlichen Entwicklungspolitik. Massive Auswanderung und hohe Finanzflüsse während der letzten Jahrzehnte bewirkten jedoch keine echte Entwicklung im ländlichen Raum. Sie erhielten lediglich den Status quo aufrecht. Auf diese Weise halfen sie, eine der ältesten und konservativsten Einrichtungen Europas zu bewahren: den traditionellen, patriarchalen Haushalt.

Die großen, erweiterten Familien in Kosovos Dörfern haben 50 Jahre Sozialismus überlebt und – angesichts eines schwachen oder feindlich gesonnenen Staates – wesentlich zum Schutz der Kosovo-Albaner beigetragen. Sie waren aber auch ein Hemmschuh für die ländliche Entwicklung und trugen zu einem ernsthaften Mangel an Investitionen in Bildung sowie einem ausgeprägtem Mangel an Innovation und Unternehmertum bei. Kosovarische Frauen weisen die niedrigsten Beschäftigungsraten und eines der niedrigsten Bildungsniveaus in ganz Europa auf. Kosovos Verharren in der Abhängigkeit von überlebensnotwendigen Finanztransfers hielt es in einem Teufelskreis der Unterentwicklung gefangen.

Heute ist der traditionelle, patriarchale Haushalt im Kosovo einem enormen Druck ausgesetzt. Überbevölkerung in den Dörfern und die Aufsplitterung von Landgütern in immer kleinere Grundstücke lassen sogar Subsistenzwirtschaft aussichtslos erscheinen. Der Mangel an Arbeitsplätzen ist dramatisch und es ist äußert schwierig geworden, im Kosovo an ein geregeltes Einkommen zu gelangen. Familien können ihre jungen Männer nicht länger zum Arbeiten nach Deutschland oder in die Schweiz schicken. Mit dem Versiegen der Finanztransfers ist es für immer weniger Haushalte möglich, über die Runden zu kommen.

Unter diesen zunehmenden Belastungen besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der traditionelle Haushalt auseinanderbrechen wird: so, wie dies in vergleichbaren Augenblicken der Geschichte im übrigen Balkan schon geschehen ist. Die Konsequenzen für die ländliche Gesellschaft könnten in der Tat erheblich sein. Der Zusammenbruch traditioneller Solidarität wird zu einer Zunahme von Not und Armut führen. Mit dem Schwinden der Autorität der patriarchalen Familie könnte die ländliche Gesellschaft darüber hinaus ihre traditionelle Passivität verlieren, sodass familiäre Zerwürfnisse auf den öffentlichen Bereich übergreifen. Auch dies ist in der Vergangenheit in Südosteuropa bereits geschehen.

Der kosovarische Staat kann sich seine Abwesenheit von den ländlichen Gebieten nicht länger leisten. Er wird politische Mittel, Institutionen und Ressourcen finden müssen, um der wachsenden sozialen Krise auf dem Land zu begegnen, wenn das nation building im Kosovo nicht scheitern soll.

Sollte der Staat sich aber als unfähig erweisen, rechtzeitig zu reagieren, dann könnte er bald feststellen, dass seine Tagesordnung zusehends von seinen wütenden jungen Männern bestimmt wird. GERALD KNAUS
EGGERT HARDTEN