: Berichte über viele Tote in Libyen
NORDAFRIKA In Gaddafis Reich gibt es keine unabhängige Berichterstattung und derzeit auch kein Internet. Augenzeugen sprechen von Schüssen auf Demonstranten
EINWOHNER VON BENGASI
TRIPOLIS rtr/dpa | In Libyen nehmen die Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften immer dramatischere Formen an. Mindestens 100 Demonstranten wurden nach Schätzung der Menschrechtsorganisation Human Rights Watch in dem nordafrikanischen Land bei den seit vier Tagen anhaltenden Protesten gegen den seit vier Jahrzehnten mit harter Hand herrschenden Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi getötet. Die oppositionelle Website Libya al-Youm sprach sogar von 208 Toten. Der Revolutionsführer ließ Augenzeugen zufolge am Wochenende seine Sicherheitskräfte auf die Bevölkerung schießen und sogar Trauermärsche angreifen.
In der libyschen Hafenstadt Bengasi schossen Einwohnern zufolge Scharfschützen der Sicherheitskräfte aus einem befestigten Gelände heraus auf Demonstranten. Die italienische Nachrichtenagentur Ansa zitierte einen Augenzeugen, der die Stadt nach den tagelangen Unruhen als „völlig außer Kontrolle“ beschrieb. Einwohnern zufolge wurden allmählich die Lebensmittel knapp. „Dutzende wurden getötet, nicht 15, Dutzende. Wir befinden uns mitten in einem Massaker“, sagte ein Einwohner. Seinen Worten zufolge wurden die Demonstranten erschossen, als sie versuchten, in die Kommandozentrale der Sicherheitskräfte einzudringen.
Ein anderer Einwohner sagte, die Sicherheitskräfte hätten sich auf das Gelände der Einsatzleitung zurückgezogen. Ein Italiener berichtete der Agentur Ansa aus der Stadt, dass Regierungs- und Verwaltungsgebäude sowie eine Bank niedergebrannt worden seien. „Die Rebellen haben geplündert und alles zerstört“, sagte der Augenzeuge. Nirgendwo sei Polizei zu sehen. Eine Gruppe muslimischer Geistlicher forderte die Sicherheitskräfte auf, dem Töten ein Ende zu machen. „Stoppt das Massaker jetzt“, hieß es in ihrem Appell. Zuvor waren erneut tausende Menschen im rund 1.000 Kilometer östlich der Hauptstadt Tripolis gelegenen Bengasi auf die Straße gegangen, um gegen Gaddafi zu demonstrieren.
Eine unabhängige Bestätigung für die Angaben gab es nicht. Ausländische Reporter sind nicht zugelassen, und einheimischen Journalisten wurde die Reise nach Bengasi verwehrt. Dort ist die Unterstützung für Gaddafi deutlich geringer als in anderen Landesteilen. Die Regierung äußerte sich nicht zu den Gewaltausbrüchen. Wegen der Medienzensur ist das Ausmaß der Proteste aber nur schwer abzuschätzen. Zudem waren die Mobilfunkverbindungen nach Bengasi häufig unterbrochen. Auch wurde die Internetverbindung in Libyen gekappt.
Erstmals seit Beginn der Massenproteste in der arabischen Welt forderten auch in Marokko mindestens 2.000 Menschen politische Reformen. In der Hauptstadt Rabat verlangten die Demonstranten am Sonntag eine Beschneidung der Macht von König Mohammed IV. Bürgerrechtsinitiativen und Jugendgruppen hatten zu einem „Tag des Stolzes“ und Kundgebungen in etwa 20 Städten des Landes aufgerufen.
Marokko verfügt über eine vielfältige Parteienlandschaft und ein gewähltes Parlament. Die Macht der Regierung ist allerdings dadurch eingeschränkt, dass der König in wichtigen Fragen das letzte Wort hat. Er ernennt auch die Minister für die Schlüsselressorts. Kundgebungen für Demokratie gab es auch in Algerien, Oman und Kuwait sowie in dem Kleinstaat Dschibuti am Horn von Afrika.