Auch Frühaufsteher ohne Lehrstelle

Wirtschaft und Bundesagentur für Arbeit jubelten gestern über den Erfolg ihres Ausbildungspakts. Dabei bekamen auch im vergangenen Jahr etwa 150.000 Jugendliche keine Lehrstelle – und die Warteschlange der Altbewerber wird immer länger

VON NATALIE WIESMANN

Michael Lichtenberg ist geistig fit und in der Lage, morgens aufzustehen. Trotzdem sucht der 20-Jährige aus dem saarländischen Neunkirchen seit zwei Jahren vergeblich eine Lehrstelle. „Ich habe schon 100 oder 150 Bewerbungen geschrieben“, sagt er.

Laut Ludwig Georg Braun, dem Präsidenten der Deutschen Industrie- und Handelskammer, haben junge Menschen wie Lichtenberg, die keinen Ausbildungsplatz finden, allesamt „problematische Biografien“: „Sie kommen morgens nicht aus dem Bett und müssen einzeln betreut werden“, sagte er vergangene Woche zum wiederholten Male. Das ärgert Lichtenberg: „Ich muss nicht an die Hand genommen werden“, sagt er. Er möchte einen kaufmännischen Beruf erlernen. Sein Manko: eine Durchschnittnote von 2,8 bei der mittleren Reife und der Abbruch der höheren Handelsschule.

Während Lichtenberg weiter verzweifelt sucht, klopften sich gestern Arbeitgeberorganisationen und die Bundesagentur für Arbeit selbst auf die Schulter. Sie zogen in Berlin eine positive Bilanz zum Ausbildungspakt mit der Bundesregierung: „Das Paktjahr 2006 war erfolgreich“, hieß es da. Es gebe mehr Ausbildungsverträge, auch die Wirtschaft habe ihre Zusage hinsichtlich der zusätzlichen Einstiegsqualifizierungen erfüllt. Von den Ende September 2006 noch nicht vermittelten 50.000 jungen Menschen hätten inzwischen 65 Prozent einen Platz oder eine Qualifizierungsmaßnahme gefunden.

Mit den sogenannten Qualifizierungsmaßnahmen hat Michael Lichtenberg so seine Erfahrungen gemacht: „Die Arbeitgeber sollten mal drei Monate unter der Terrorherrschaft der Bundesagentur stehen, dann würden die anders reden.“ Nachdem er bei seinem Arbeitsamt mehrmals betont hätte, dass er handwerklich unbegabt sei, steckte es ihn für jeweils sechs Monate in eine Holzwerkstatt und in einen Handwerksbetrieb – für 1,25 Euro, zusätzlich zum Arbeitslosengeld II. Erst jetzt darf er an einer Qualifizierungsmaßnahme des Berufsbildungswerks teilnehmen, die ihn auf eine kaufmännische Lehre vorbereiten soll.

Die Gewerkschaften bezeichnen die offiziellen Zahlen der Ausbildungssuchenden als „geschönt“. Etwa 150.000 Jugendliche seien im vergangenen Jahr leer ausgegangen, sagt Marco Frank, Ausbildungsexperte des DGB. Diejenigen, die von Bundesagentur als „versorgt“ eingeordnet würden, müssten dazugezählt werden: „Die leisten stattdessen ihren Zivildienst ab, jobben oder nehmen zum x-ten Mal an einer schulischen Maßnahme teil“, so Frank, „sie sind aber weiter in der Warteschleife.“ Die Zahl der sogenannten Altbewerber sei von 2005 auf 2006 sogar um 13 Prozent gestiegen.

Der Ausbildungspakt, der 2004 zwischen Bundesregierung und Unternehmern beschlossen wurde, funktioniere nicht, sagt Frank: „Die Wirtschaft muss weit mehr Ausbildungsplätze schaffen, als sie es heute tut.“ Der DGB fordert deshalb weiter eine Ausbildungsumlage als Strafe für ausbildungsunwillige Unternehmen.

Zurzeit ist das Gegenteil der Fall: Die Unternehmen beschäftigen Langzeitpraktikanten, die sie nichts kosten. Die Vergütung von 192 Euro pro Monat und die Sozialversicherungsbeiträge von 102 Euro werden komplett von der Bundesagentur übernommen. 270 Millionen Euro Fördermittel hat das Bundesarbeitsministerium seit 2004 aus Steuergeldern in die Einstiegspraktika fließen lassen. Nach der Aufstockung von 25.000 Plätzen jährlich auf nunmehr 40.000 kommen jedes Jahr noch einmal 124 Millionen Euro dazu. Die Gewerkschaften befürchten, dass dadurch betriebliche Ausbildungsplätze verdrängt werden: „Sie sind konkurrenzlos günstiger“, so Frank.