: Die Süßigkeit, die salzig ist
NISCHENPRODUKT In seinem Laden im Hamburger Stadtteil Dulsberg macht Michael Bühl Lakritze-Pralinen. Rezepte benutzt er keine, das bremse die Kreativität. Mehr als 600 Sorten hat er für seine Experimente vorrätig
Herkunft: Lakritze (Glycyrrhiza glabra) wird aus Süßholz gewonnen. Die Stauden werden bis zu zwei Meter hoch, ihre Wurzeln mehr als acht Meter lang.
Verbreitung: Hauptsächlich kommt das Gewächs in Südeuropa, Südrussland, Syrien, China, Afghanistan und Indonesien vor.
Herstellung: Zur Lakritzgewinnung werden die Wurzeln eingekocht und extrahiert. Übrig bleibt eine schwarze, süßliche Masse.
Rezepte: Um aus dem Extrakt Lakritzsüßigkeiten herzustellen, wird Zuckersirup, Mehl und Gelatine zugesetzt. Je nach Variation kommen Agar, Anis, Fenchelöl, Pektin, Salz oder Salmiak hinzu. CJT
VON JOHANN TISCHEWSKI
Bis an die Decke türmen sich die durchsichtigen Plastikbehälter in dem kleinen Laden in Hamburg-Dulsberg. „Weit mehr als 600 verschiedene Sorten“, sagt Michael Bühl stolz. Scharfe Lakritze, salzige Lakritze, süße Lakritze, dänische, schwedische, holländische, harte, weiche – ja, sogar flüssige. Bühl sagt, er habe alles da, nur keine Katjes.
Wenn jemand zu ihm in den Laden kommt und eine bestimmte Lakritzsorte sucht, die er zuvor im Supermarkt gesehen hat, wird er sie ziemlich sicher nicht finden. „Und wenn doch, nehme ich sie am nächsten Tag aus meinem Sortiment“, sagt der Bühl. Er ist 53 und trägt eine Brille mit dickem schwarzen Rahmen, seine Füße stecken in Sneakers. Er wolle Originalität, sagt Bühl. Das sei seine Nische.
Wenn man ihn mit Amateurfragen zu Lakritz quält, könne der sonst so lebensfrohe Bühl auch mal genervt, vielleicht sogar schroff reagieren, berichten Kunden. An einem Samstagnachmittag im Februar wird es in seinem Geschäft trotzdem eng. „Mein Sortiment ist meine Werbung“, sagt Bühl. Die Leute kämen von überall hierher, oft sogar aus dem Ausland.
Vor neun Jahren kam Bühl nach Hamburg zurück, mit nichts als einem Koffer. Zwei Jahrzehnte hatte er mit seiner Familie in der Karibik gelebt. Den Laden an der Straßburger Straße übernahm er als Kiosk. Aber einen Kiosk zu führen, erschien Bühl zu wenig originell. Langsam begann er die Süßigkeitenecke des Geschäfts auszubauen und kiosktypische Artikel immer weiter aus dem Sortiment zu drängen. Süshi-Express nannte er von nun an seinen Laden, irgendwann legte er sich auf Lakritz fest.
Das besondere an Lakritz sei die salzige Note, sagt er. Keine andere Süßigkeit auf der Welt habe das. „Wohl auch der Grund, warum Lakritz in Küstenregionen besonders beliebt ist“, glaubt Bühl. In den Küstenregionen Nordeuropas war durch den Schiffsverkehr ein kontinuierlicher Nachschub des für die Herstellung von Lakritze notwendigen Süßholzes garantiert. So konnten sich die Menschen über die Jahre hinweg an den Geschmack gewöhnen.
Ein niedriger Gang hinter der Ladenkasse führt in das eigentliche Herz von Bühls Reich, die Lakritzküche. Auch hier stapeln sich überall die durchsichtigen Plastikbehälter. Selbst von der Decke ragen zwei Regale mit Plastikbehältern in den engen Raum hinein. Daneben Küchenwagen, Backpapier, Rohschokolade und Gewürze.
„Ich bin deutschlandweit der Erste und Einzige, der im großen Umfang Lakritz-Pralinen herstellt“, sagt Bühl stolz und reicht eine seiner Kreationen: ein kleines Täfelchen weißer Schokolade mit sehr salzigem Lakritz. Kaum haben Bühls Gäste aufgegessen, reicht er auch schon die nächste Praline. „Diese nenne ich Bollywood Ei, Lakritz mit asiatischem Knusperzeug auf Erbsenmehlbasis in sehr dunkler Schokolade“, sagt er und wartet gespannt auf die Reaktion. Schmeckt nicht schlecht – zumindest interessant – aber als Bühl kurz darauf seine „Lemonfutsch auf Säurebasis“ anbietet, müssen ihm seine Gäste vorsichtig signalisieren, dass diese Praline die letzte sein wird, die ihr Magen zur frühen Stunde aushalten kann.
Seine Pralinen mache er immer „aus der Lamäng heraus“, sagt er. Sprich: Er benutzt generell keine Rezepte. „Ich möchte, dass die Herstellung meiner Pralinen ein kreativer Prozess bleibt.“ Vor allem aber wolle er sich keine Grenzen setzen. Alles sei möglich, wenn man an Lakritz denke.
In Bühls Sortiment finden sich türkischer Lakritzpfeffer, holländischer Lakritzhustensaft und Lakritzseife aus Dänemark. Und dabei muss es nicht bleiben. „Wer sagt mir, dass ich keine Lakritzkuchen, keine Lakritznudeln und keine Lakritzwurst produzieren kann?“