Der Irrtum von der großen Politik

POLITISCHE THEORIE Was ist Politik, was das Politische? Und was eigentlich ist das Fundament der Demokratie? Oliver Marcharts instruktives Buch plädiert für eine „minimale Politik“

Wie das Politische denken, wenn sich alle festen Grundlagen aufgelöst haben?

VON ISOLDE CHARIM

Noch immer haben die meisten Theorieinteressierten einen „Frankotropismus“, der ihre Köpfe nach Frankreich wenden lässt. Wie viele Jahre schon kommt von dort das neue, das aufregende Denken? Wobei Frankreich längst keine geografische Angabe mehr ist, wie die neue Studie von Oliver Marchart zeigt.

Diese ist eine Bestandsaufnahme aktueller französischer Theorie und inkludiert neben Claude Lefort, Alain Badiou, Jean-Luc Nancy und Jacques Rancière auch geistige Franzosen, die nur zufällig anderswo geboren wurden, wie Ernesto Laclau oder Giorgio Agamben. Es ist schön, wenn da einer kommt, der einem das mal richtig gut erklären kann. Und darin ist Marchart wirklich gut.

Sein Buch zeigt aber, dass man zu solcher Klarheit nur kommen kann, wenn man von einem eigenen Standpunkt aus spricht. Insofern ist dieses Buch zweierlei: Referat fremder und Darstellung eigener Theorie. Eine eigene Theorie heißt, sich einen Weg durch das Dickicht des Gedachten zu bahnen, heißt, Entscheidungen zu treffen. Und Marchart ist sehr entschieden.

Am Ausgang des Zeitalters aller politischen Gewissheiten scheint es, dass Politik sich auf Verwalten und Interessenausgleich reduziert. Wenn dem so wäre, dann könnte sich politische Theorie damit begnügen, empirische Missstände aufzuzeigen oder die Postdemokratie auszurufen. Dafür würden die „Mittel der herkömmlichen Politikwissenschaften“ tatsächlich ausreichen, wie Thomas Assheuer in seiner Besprechung des Buches in der Zeit meinte.

Tatsächlich lässt sich aber keine Gesellschaftsordnung auf ihre empirische Funktionsweise beschränken. Auch Demokratie nicht. Nur ist dieser Umstand hier nicht so offensichtlich wie etwa beim Gottesgnadentum. Eben deshalb braucht es gerade heute eine politische Philosophie. Diese versucht, die verborgene Dimension der Demokratie zu denken, indem sie zwischen der Politik und dem Politischen unterscheidet. Politik meint die profane, alltägliche Politik-Politik im engeren Sinne, im Unterschied zu dem Politischen, der grundlegenden symbolischen Ordnung. Das ist die Ausgangslage von Marcharts Untersuchung mit dem programmatischen Titel „Die politische Differenz“.

Alte Gespenster

Wie aber lässt sich das Politische, das, was unserer Gesellschaft zugrunde liegt, denken, wenn sich alle „Figuren der Letztbegründung, alle festen Grundlagen“ aufgelöst haben? Was ist das Fundament unserer postfundamentalistischen Zeiten? Postfundamentalismus, der eigentliche Zentralbegriff des Buches, bezeichnet die paradoxe Situation, in der Letztbegründungen unmöglich, aber nichtsdestotrotz notwendig sind. Denn ohne solch eine symbolische Ordnung ist eine Gesellschaft keine Gesellschaft. Es gibt sie also noch, die grundlegende Dimension unserer politischen Gesellschaft. Deren Besonderheit besteht nun darin, nicht ein für alle Mal festgelegt zu sein – wie in anderen politischen Ordnungen. Ständige, konfliktreiche Neubestimmungen sind das eigentliche „Fundament“ der Demokratie – ein äußerst kontingentes Fundament, das immer wieder in Frage gestellt wird.

Ist das nun linke Metaphysik, wie Thomas Assheuer schreibt? Nur eine verführerische, aber überflüssige Mystifikation? Dies ist keine Mystifikation, so wenig wie das Unbewusste eine Mystifikation ist. Und es ist alles andere als überflüssig, wenn man dies vor der drängenden Erfahrung des wachsenden Rechtspopulismus in Europa liest. Denn dieser lässt sich nicht alleine auf der empirischen Ebene begreifen, operiert er doch massiv auf der Ebene des Symbolischen. Indem er nämlich die Kontingenz der Letztbegründung – das Beste und gleichzeitig das Heikelste, was unsere Demokratien zu bieten haben – durchzustreichen versucht. Indem er etwa das „Volk“, das nur als Vorstellung existiert, zu einem „empirischen Gespenst“ macht, wie es bei Helmut Dubiel heißt. Eine der wesentlichen politischen Auseinandersetzungen unserer Tage verläuft also zwischen jenen, die das Politische offenhalten wollen und jenen, die es in einer Gestalt wie dem „Volk“ in ihrem Sinne festschreiben wollen. Denn wir werden nach wie vor von „den Gespenstern der alten metaphysischen Figuren“ heimgesucht, wie Marchart schreibt.

Große Politik

Und damit sind wir beim dritten Teil des Buches, Marcharts eigener Theorie. Der springende Punkt dabei ist Marcharts vehemente Entscheidung: gegen jene postfundamentalistischen Theoretiker, die eine bedingungslose und letztlich unmögliche „große Politik“ propagieren. Gegen das unheilvolle Phantasma der großen Entscheidungsschlacht, der Revolution, des radikalen Bruchs, des authentischen Akts.

Angesichts all des Getöses um finale Entscheidungsschlachten schreibt Marchart den wunderbar nüchternen Satz: „Man fragt sich, ob Politik nicht vielleicht doch etwas billiger zu haben ist.“ Statt für die „Sektierer des Wahrheitsereignisses“ plädiert Marchart für Antonio Gramsci, das heißt, für das Erringen von Hegemonie in einer Art von Stellungskrieg und gegen den illusionären Befreiungsschlag der einen Revolution. Der Stellungskrieg ist eine zähe Aufgabe, bei der es nur langsam zu „minimalen Verschiebungen“ kommt.

In diesem Sinn entwirft Marchart das Programm einer „minimalen Politik“ zur Eroberung der Hegemonie. Deren Schlachtplan lautet, die Kontingenz überall dort in Stellung zu bringen, wo sich Identitäten verfestigt haben. Das ist für ihn wahrlich demokratische Politik, das heißt Politik im Einklang mit dem symbolischen Dispositiv der Demokratie, im Unterschied zu einer All-or-nothing-Logik. Gramsci oder Žižek heißt die Alternative. Denn „nicht jede postfundamentalistische Politik ist demokratisch, aber jede demokratische Politik ist postfundamentalistisch“.

Oliver Marchart: „Die politische Differenz“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 391 Seiten, 14 Euro