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Gänsemarsch des gewohnten Gehorsams

■ Christoph Marthalers Murx den Europäer-Inszenierung gastiert am Schauspielhaus

Vielleicht sollten sich die Deutschen ihre Vergangenheitsbewältigung lieber von Ausländern abnehmen lassen. Die neigen wenigstens nicht zu größenwahnsinnigen Monumentlösungen und erdrückender Moral-Pädagogik, sondern finden die entscheidenden Zeichen, Befindlichkeiten und Verquernisse, aus denen sich schreckliche Verirrungen ergeben, distanziert und spielerisch – zumindest, wenn sie gute Künstler sind.

Der Schweizer Christoph Marthaler ist ein solcher und sein großer Lieder-Theaterabend Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!, der vor zwei Jahren Premiere an der Berliner Volksbühne hatte, sticht ein präzises Porträt einer ideologisch gebeutelten Generation, wie es Ortsansässigen meist nicht gelingt. In einer jener bezaubernden zeitarmen Zellen von Anna Viebrock, die Hamburger inzwischen aus den hiesigen Marthaler-Inszenierungen kennen, versammeln sich in Debilität erschöpfte Menschen in einem depressiv-erwartungslosen Zustand. Wie Geisterschiffe aus dem Nebel tauchen immer wieder Erinnerungsfetzen, Lebensmotti und alte Lieder auf, letztere aus vier Epochen: der Vergangenheit, der nationalsozialistischen Vergangenheit, der sozialistischen Vergangenheit und der Gegenwart.

Viele Motive, die auch in Marthalers Wurzel-Faust auftauchten, sind hier bereits vorformuliert: die unhaltbare aber zwanghafte Ordnung, die angebetete Maschine, die sich nur durch Geräusche meldet, die Zeichnung der Figuren als Wracks, aus denen sich aber Lebensfunken schlagen lassen, die Bedeutung des Details gegenüber dem Event. Dabei fängt das Team Marthaler/Viebrock eine „ost-deutsche“ Atmosphäre durch so winzige Zeichenspuren ein, daß bei Aufführungen in Berlin stets ein Teil wissend lachte, während der andere sich nur wundern konnte.

Das leise Knacken eines alten Allesbrenners bekommt so plötzlich Bedeutungsschwere, das Fallen von Buchstaben aus dem pseudo-sozialistischen Motto „Damit die Zeit nicht stehen bleibt“ reizt zu brüllendem Gelächter, der kollektive Gänsemarsch in der braungetäfelten Wartehalle zum Waschbecken verwandelt sich in eine absurde Metapher für gewohnten Gehorsam, den Ostberliner schon mal mit Zwischenrufen quittierten.

Damit diese Aufführung, mit der Christoph Marthaler sein Durchbruch zum Regiestar gelang, in Hamburg gezeigt werden kann, mußte das Parkett des Schauspielhauses überbaut werden (wie einst beim Brook-Gastspiel), denn die Inszenierung funktioniert nicht in der Untersicht. Nicht verpassen!

Till Briegleb

Mo.-Mi., 20 Uhr, Deutsches Schauspielhaus

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