: Wildfremde im Schlafzimmer
■ Nicht nur ein Segen: Winternotprogramm für Obdachlose
„Die Unterbringung von Obdachlosen in Containern darf nicht zum Hamburger Alltag werden. Es handelt sich um ein Notprogramm. Der Druck, daß Menschen langfristig Wohnungen brauchen, muß bleiben.“ Gekonnt offensiv geht Sozialsenatorin Helgrit Fischer-Menzel (SPD) mit der Kritik am „Winternotprogramm“ für Obdachlose um, das gestern zum vierten Mal begann.
Um auf der Straße Lebende in der kältesten Jahreszeit vor dem Erfrieren zu retten, stehen bis Ende März auf Grundstücken von 15 Kirchengemeinden und zwei Fachhochschulen (Rauhes Haus, Saarlandstraße) Wohn-Container mit insgesamt 110 Schlafplätzen zur Verfügung. Bahnhofsmission, Tagesaufenthaltsstätten und Gemeinden vermitteln; finanziert wird das Programm mit 350.000 Mark aus dem Etat der Sozialbehörde.
Wegen der großen Nachfrage im vergangenen Jahr wurde die Zahl der Übernachtungsplätze für Frauen auf sechs Container mit 15 Betten verdoppelt. Im Wohnheim Notkestraße werden 20 weitere Plätze angeboten. Auch der Landesbetrieb pflegen & wohnen beteiligt sich mit mehr als 100 zusätzlichen Schlafplätzen, davon 46 auf dem Wohnschiff Bibby Kalmar und 60 in der Männer-Übernachtungsstätte „Pik As“.
„Niemand, der um ein Bett bittet, wird weggeschickt“, ließ die Senatorin die Barmherzige raushängen. Wenn die angebotenen Plätze nicht reichten, würde notfalls eben „eine Matratze dazugelegt“. Von dem Vorwurf, das Angebot dürfe sich nicht allein auf Container beschränken, weil viele Menschen es einfach nicht ertragen, auf zwölf oder 15 Quadratmetern zu dritt und mit völlig Fremden zu hausen, wollte Fischer-Menzel nichts wissen: Die fast totale Auslastung der Container-Plätze im vergangenen Jahr und die mit 35 Prozent „ausgesprochen geringe“ Fluktuation bewiesen die Akzeptanz „in der Szene“. Hamburg weigert sich auch in diesem Jahr, U-Bahn-Schächte in besonders kalten Nächten als Schlafplatz zu tolerieren. „Ziel des Winternotprogramms ist auch, die Menschen wieder in die Gesellschaft zu integrieren, und dazu gehört soziale Betreuung, die in Bahnhöfen nicht stattfinden kann“, kann die Senatorin der gängigen Praxis von Paris oder New York nichts Vorbildhaftes abgewinnen.
Sie verkennt dabei, daß viele Obdachlose, wie die 37jährige Sabine*, es „nach einem Jahr auf der Straße nicht mehr abkönnen, in so einer Zwangsgemeinschaft zu leben. Man hält das nur mit Kopfhörer und möglichst fiebrigem Kopf durch. Und dann am besten nur noch durchknallen.“
Weil sie außerdem „das Gefühl hatte, in den Einrichtungen zum Beschäftigungsobjekt von Sozialarbeitern degradiert zu werden“, hat Sabine es vorgezogen, in den Park zurückzuziehen. „Aber auch da kennen die Leute keine Scham: Wenn sie dich neugierig anglotzen, während du noch im Schlafplatz liegst, ist das, als ob Wildfremde plötzlich durch dein Schlafzimmer trampeln.“ Heike Haarhoff
*Name geändert
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