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„Und wieder bringt mich Judas heim“

■ Wie entsteht eine jüdische Identität? Esther Dischereit las aus „Joämis Tisch“

Im Band Mein Judentum schrieb der Schriftsteller Jurek Becker, eingedenk seiner KZ-Erfahrung: „Bis heute weiß ich nicht, welches die Merkmale sind, die einen Menschen jüdisch sein lassen.“ Er erinnert sich an die Bemerkung seines Vaters: „Wenn es keinen Antisemitismus geben würde – denkst du, ich hätte mich auch nur eine Sekunde als Jude gefühlt?“

Ist das Jüdischsein demnach bloß eine Zuschreibung der anderen? Wie kann jüdische Identität in der zweiten Generation heute in Deutschland mit dem Wissen von Auschwitz gelebt und künstlerisch gestaltet werden?

Esther Dischereit, Jahrgang 1952, mit Wohnsitz in Berlin, sucht ihre „jüdische Geschichte“; in der Evangelischen Akademie las sie am Mittwoch aus dem bereits 1988 erschienenen Band Joämis Tisch (Suhrkamp Verlag, 122 S., 9,– Mark): „Nach zwanzig Jahren Unjude will ich wieder Jude werden.“ Dischereits Mutter, die Hauptfigur in Joämis Tisch, war Jüdin. In ihrem Selbstfindungsprozeß schreibt sich die Tochter an die Erfahrungen der Mutter heran. Sie verbündet sich mit ihr, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurde – beispielsweise im kalten Blick auf eine Nachbarin: „Sie sprang durchs Sonnenwendfeuer, meine Mutter aus dem Zug.“

Die familiäre Heimat ist beschädigt durch die zerstörte Mutter. Der Vater hingegen, im Leben wie im Buch, ist ein Goi ohne jedes Verständnis für die Frauen: „Er widert sie an und uns.“ Auch die politische Heimat erweist sich als trügerisch, denn die deutsche Jüdin erlebt die Ignoranz einer linken Bewegung, die zwar vom Faschismus spricht, aber den Holocaust konsequent verdrängt: „Diese sechs Millionen, sind die nicht mein Problem?“ Im stummen Protest verläßt die linke Jüdin die politische Veranstaltung – sie kann sich hier nicht länger zugehörig fühlen.

In Joämis Tisch wird mittels permanenter Distanz eine jüdische Identität gesucht. Abgrenzungen ermöglichen die Selbstsuche und wiederholen doch nur die vormals praktizierte Ausgrenzung.

Esther Dischereits Erzählweise ist bewußt brüchig, der Leser soll wie die Autorin Fragmente der Zerrissenheit vorfinden. Facetten von Kindheitserinnerungen stehen neben politischen Beobachtungen und zwischenmenschlichen Erfahrungen. Mit jeder kleinen Texteinheit wechseln Zeitebene und Figurenkonstellation. Das einzige Kontinuum ist das bewußt angenommene Jüdischsein: „Ihr fällt jetzt niemand ein, mit dem sie das besprechen kann – und wieder bringt mich Judas heim.“ Frauke Hamann

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