: Retroaktive Totalisierung
■ Warum man sich den Hamburger Vortrag von Slavoj Zizek anhören sollte
Wem die Schriften Jacques Lacans unzugänglich geblieben sind, die Bücher Louis Althussers in den Regalen verstauben und das vielfältige Theorieangebot, das unter dem Label Poststrukturalismus feilgeboten wird, immer noch ratlos macht – für den muß es trotzdem nicht zu spät sein. Hilfe naht in Gestalt des slowenischen, 1949 in Ljubljana geborenen Psychoanalytikers und Philosophen Slavoj Zizek. Denn seine Sache ist die Orthodoxie der Lehrmeinungen und Schulen, zumindest vordergründig, nicht. Vielmehr kleidet er sein Anliegen in die ihm eigentümliche Mischung aus Trash und Pulp: Nichts aus dem unerschöpflichen Reservoir der Unterhaltungs- und Kulturgüterindustrie ist vor ihm sicher. Am Montag um 18 Uhr wird er live an der Uni zu erleben sein (Von-Melle-Park 8, Raum 105).
Zizek vermag über den Umweg einer defekten Toilettenspülung in die Kniffe der Ideologiekritik einzuführen und am Beispiel des Untergangs der Titanic die letzten Geheimnisse unserer Existenz zu enträtseln. Einschlägig sind auch seine Ausführungen zur Filmgeschichte, insbesondere zu Alfred Hitchcock, aber auch zum Weißen Hai oder der Alien-Trilogie. Natürlich dürfen hier auch nicht erhellende Analysen zu Mozart oder Wagner fehlen oder der klassische Theorienmix von Kant bis Habermas. Der eigentliche Witz aber liegt darin, wie Zizek dieses Sammelsurium immer wieder neu konstelliert und zu mitunter überraschenden Ergebnissen kommt.
Dreh- und Angelpunkt von Zizeks Analysen ist eine Bewegung, die er im Anschluß an Lacan „retroaktive Totalisierung“ nennt. Das meint nichts anderes, als daß sich unser Verstehen und unsere Orientierung, überhaupt alle Fixierungen des Sinns, als nachträgliche Effekte erweisen, die aber entgegen dieser Nachträglichkeit immer als erstes Prinzip oder Anfang gesetzt werden, vulgo: Im nachhinein glaubt man immer schlauer zu sein, dabei ist das Wissen nur anders geworden, als man im vorhinein ahnen konnte. Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt – mit dieser mehr oder weniger traumatischen Ungewißheit muß jeder auf seine Weise fertigwerden.
Das mag zuerst nicht sonderlich brisant klingen, erfährt bei Zizek aber eine durchaus scharfe, ideologiekritische Akzentuierung. Er gehört zu den wenigen Denkern, die etwas Relevantes zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien beizutragen hatten. Sein Befund, Jugoslawien sei das Unbewußte Europas, konnte mit einem Schlag die Selbstgefälligkeit der politischen Sonntagsredner deutlich machen: Dieser Krieg war und ist nicht nur der blinde Fleck in der Konstitution der europäischen Idee, sondern ruft darüber hinaus die Gewaltfundiertheit jeder Kultur, insbesondere unserer „friedlichen“, „zivilisierten“ und „aufgeklärten“, in Erinnerung. Zizek geht es um genau diese imaginäre (und zugleich notwendige) Verkennung der eigenen, realen Voraussetzungen. Hierin liegt schließlich auch der politische Wert sowie das in der Tat ernste Anliegen seiner Analysen.
Christian Schlüter
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