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Neue Hamburger Klassik-CDs

■ Zwei durch den Faschismus in Vergessenheit geratene Werke, ausgegraben von Gerd Albrecht: Manfred Gurlitts „Wozzeck“ und Paul Dessaus „Hagadah Shel Pessach“

Das Schicksal hat es wahrlich nicht gut gemeint mit Manfred Gurlitts Oper Wozzeck – und ebenso mit dem Komponisten selbst. Denn sein weit berühmterer Kollege Alban Berg, dessen Wozzeck noch heute ein Klassiker des modernen Musiktheaters ist, hatte vier Vorteile auf seiner Seite, die seine und nicht Gurlitts Büchner-Adaption unsterblich machten. Berg war Mitglied einer „Szene“ berühmter Komponisten, sein Werk kam wenige Monate vor Gurlitts zur Aufführung, dazu in Berlin und nicht in der Bremer Provinz, wo Gurlitt Erster Kapellmeister war, und schließlich starb Berg rechtzeitig genug, um die Kulturbarbarei der Nazis und die ihr folgende Verdrängungsperiode als fertiger Mythos zu überstehen.

Gurlitt, der als sozialistisch gefärbter Klangerneuerer erst in Bremen und nach der Machtergreifung in Japan seinen Kampf für die Neue Musik abseits der zentralen Musikcolosseen führte, ist somit das ideale Objekt für Gerd Albrechts Schatzsuche. Der Hamburger GMD, der ja gerne Komponisten, denen ihre Bedeutung versagt wird, der verwesenden Erinnerung entreißt, hat Gurlitts Wozzeck mit dem Deutschen Symphonieorchester Berlin eingespielt.

Und die Entdeckung ist gerechtfertigt. Denn Gurlitts expressionistische Lok, die mit einem solchen Druck durch die Komposition rauscht, als würde jeden Moment der Notenkessel platzen, gibt eine deutlich aufwühlendere Sicht auf Büchners Helden frei, als das Berg getan hat. Gerade weil Gurlitt sein großes Orchester schmächtig und in knochiger Reduktion einsetzt, entsteht eine Emotionalität, die hauptsächlich von den Stimmen getragen wird, was einen ungemein fesselnden Effekt bekommt. Wahn, Angst und Verzweiflung werden nicht orchestral in die Erhabenheit verklärt, sondern präsentieren sich in unmittelbarer Nacktheit menschlichen Gesangs. Die Musik, mehr ein bewußtes Mosaik aus romantischen und dissonanten, schmeichelnden und schmerzenden Klängen, als ein leitmotivisches Amboßschlagen, gibt so der Geschichte im Gesang ihren Platz.

Auch Paul Dessaus Oratorium Hagadah Shel Pessach rechnet sich Albrecht als seine Entdeckung an. Immerhin hat er zum letzten Musikfest, das auch Dessau gewidmet war, das monumentale Werk fast sechzig Jahre nach seiner Entstehung zur Uraufführung gebracht. Das im Pariser Exil entstandene dreiteilige Oratorium nach einem Text von Max Brod – aufgeführt in einer deutschen statt der ursprünglich hebräischen Textfassung – gemahnt mit seinem religiösen Thema, der Befreiung der Juden aus dem ägyptischen Exil, an die Rettung des europäischen Judentums vor den Nationalsozialisten.

Dazu schöpft Dessau kompositorisch aus dem Übervollen, immer aber darauf konzentriert, seinen Wunsch nach einem Volksoratorium nicht durch zuviel Abstraktion ad absurdum zu führen. Drei Chöre, das erweiterte Philharmonische Staatsorchester und zehn Solostimmen geben dem Oratorium Pomp und Gewalt, die Dessau aber klug dynamisch einsetzt. Volkstümliche Melodien neben Klangmalereien, dramatische Arien neben gefühligen Einsprengseln mit filmmusikalischen Mustern, sinfonische Leichtigkeit neben bedrückender Nachdenklichkeit bezeichnen knapp den Reichtum an Ideen, die Dessau hier bändigt. Mit einem Tanzlied des Kinderchors und der versöhnlichen Zeile „Und im nächsten Jahr frei, im nächsten Jahr frei!“ endet das eindrückliche Werk in einem hoffnungsblinden Irrtum, der vielleicht mit dafür verantwortlich ist, daß es bis jetzt auf seine Würdigung warten mußte.

Till Briegleb

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