: Selbstmorde unter Brasiliens Indianern
Wegen der Überbevölkerung in ihren Reservaten bringen sich immer mehr Kaiowá-Indianer um. Der brasilianische Präsident Fernando Henrique Cardoso schaute lange weg ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange
Die Welle von Selbstmorden unter Brasiliens Kaiowá-Indianern nimmt immer bedrohlichere Ausmaße an. Allein in diesem Jahr haben sich 50 Angehörige des Unterstammes der Guarani-Indianer im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso do Sul, die Mehrheit von ihnen zwischen 12 und 17 Jahren, das Leben genommen. Die Menschenrechtskommission des brasilianischen Parlaments macht die Regierung für die Selbstmordwelle verantwortlich. „Präsident Cardoso schaut sich das Drama ungerührt an“, klagt der Vorsitzende der Kommission, Nilmario Miranda.
Nach Angaben des brasilianischen Indianermissionsrates „Cimi" nahmen sich in den letzten 10 Jahren 230 Kaiowá das Leben. Grund für die beängstigende Selbstzerstörung des Volkes ist nach Einschätzungen von Ethnologen die Überbevölkerung in der 18.000 Hektar großen Region in der Nähe der Stadt Dourados, die bereits im Jahr 1928 zum Reservat erklärt worden war. In dem Gebiet leben rund 25.000 Kaiowá, die sich auf acht verschiedene Dörfer verteilen. „Dort, wo die Überbevölkerung am stärksten und ein Großteil der Jungen gezwungen ist, sich als Tagelöhner auf benachbarten Farmen oder Alkoholdestillerien zu verdingen, ist die Selbstmordrate am höchsten“, beobachtete der ehemalige „Cimi"-Vorsitzende Antonio Brand. Die Abwesenheit der Familienväter trage wesentlich zur Zersetzung der Familie und damit der traditionellen Kultur der Guarani bei.
Erst nach massivem internationalem Druck hat sich jetzt Brasiliens Staatschef Cardoso des Falles angenommen. Er schickte Justizminister Nelson Jobim in das Reservat, wo sich auf einer Fläche von 60 Hektar 6.000 Kaiowá, eine Untergruppe der Guarani-Indianer, drängen. Nach seiner Rückkehr plädierte Jobim für die von Ethnologen seit langem geforderte Vergrößerung des Reservates auf 240 Hektar.
Für die Kaiowá-Guarani ist der Selbstmord eine Krankheit der Sprachlosigkeit. „Unsere religiösen Anführer müssen mehr beten, sie müssen Kinder und Pflanzen segnen“, zitiert ein Ethnologe ihre Häuptlinge. Doch bei der zunehmenden Lohnarbeit der jungen Männer außerhalb des Reservats werde dies immer schwieriger.
Menschenrechtler Nilmario Mirando klagt die brasilianische Regierung des Völkermordes an. „Wir machen den Staat für den Ethnozid der Kaiowá verantwortlich, und zwar insbesondere die Regierung, die der Selbstmordwelle passiv zuschaut“, erklärt der Abgeordnete der brasilianischen Arbeiterpartei PT. Miranda gab sich schockiert über die Banalisierung des Freitods. „Jede Lehrerin in der Reservatsschule kann mindestens zwei Schüler aus ihrer Klasse benennen, die sich das Leben genommen haben.“ Jüngstes Opfer ist der 17jährige Sidney Isnard. Nachdem ihn seine 14jährige Freundin verlassen hatte, erhängte er sich mit seinem einzigen Kleidungsstück, einer Jeans, an einem 1,50 Meter hohen Ast.
An Geld für die brasilianischen Ureinwohner, deren Rechte auf eigene Reservate in der Verfassung von 1988 festgeschrieben sind, mangelt es nicht. Für die Ausweisung von Indianerreservaten stehen der brasilianischen Regierung seit dem UNO-Umweltgipfel im Juni 1992 in Rio de Janeiro 30 Millionen Dollar zur Verfügung. Das Pilotprogramm zur Rettung des Amazonas in Höhe von 250 Millionen Dollar wird zu drei Vierteln aus deutschen Mitteln gespeist. Mit dem Geld könnten 42 Indianergebiete festgeschrieben und weitere 58 ausgewiesen werden.
Brasiliens Präsident hat noch viel zu tun: Von den insgesamt 554 Indianergebieten in Brasilien, die ein Zehntel des nationalen Territoriums umfassen, sind 205 schwarz auf weiß für für Indianer reserviert. Cardoso trug dazu seit seinem Amtsantritt im Januar 1995 mit drei Neugründungen bei.
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