Tonnenfenster – Windows 96?

■ RA.M.M. zum Mitmachen: Auf der Suche nach der Netzanbindung gerät man in die „Einzelbehandlung“

„Short Shocks“ – RA.M.M.s neues Theaterstück, habe eine Netzanbindung, erzählte man mir am Telefon. Na klar, Telepräsenz in allen Lebenslagen, du kannst überall dabeisein. Die Homepage von RA.M.M. ist schnell gefunden, und da ist auch schon der Hinweis auf einen IRC-Kanal. IRC ist so etwas wie eine offene Telefonkonferenz, nur daß hier nicht gesprochen, sondern geschrieben wird, und im Augenblick die einzige, einfach zu realisierende Möglichkeit, sich im Internet mit anderen Leuten in Echtzeit zu treffen. Dummerweise ist es Sonntag, es findet keine Vorstellung statt. Aber selbst wenn – wie soll man Interaktion treiben, wenn man nicht weiß, was am anderen Ende der Leitung passiert?

Vielleicht ist das von RA.M.M. propagierte Programm der „Synthese von Mensch und Technologie“, der auf den ersten Blick affirmative Umgang mit den elektronischen Netztechnologien, in Wirklichkeit hinterhältige Kritik an deren haltlosen Versprechungen. Du kannst zwar überall dabeisein, aber was hast du schon davon?

Ich transformiere mich also zurück, aus Bits werden gute alte Atome, und mache mich auf den Weg zu einer „Short-Shocks-Einzelbehandlung“, nicht ohne vorher die neuen Sicherheitsschuhe mit Spray zu imprägnieren. Die echte Welt ist naß, die Wege sind voller Schlaglöcher. Es wird die erste Einzelbehandlung sein, die RA.M.M. wochentags, zwischen den Vorstellungen durchführen.

Im Tacheles werden meine Begleiterin und ich von zwei Operateuren empfangen, die mit blinkenden Lampen ausgestattet sind. Sie führen uns in einen spärlich beleuchteten Raum. Ich sehe einen Mann an der Decke hängen und finde mich auf einer Liege wieder. Ich werde mit Zellophanfolie auf der Liege fixiert, selbst mein Kopf wird festgeschnallt, und ich blicke in pulsierendes Licht. Die Musik ist maschinell, laut und mit Textsamples durchsetzt. Ich soll langsam atmen, mich auf bestimmte Körperteile konzentrieren.

Eine Stimme fragt mich, ob man mich zerstückeln dürfe. Wenn ich mich nicht entspanne, wird meine Lage unangenehm. Das verweist nicht von ungefähr auf S/M-Praktiken, Foucault-Seminare und die Renaissance des Körpers in der Kunst. Auch Techno hat so funktioniert, und insofern macht das angekündigte „Crossover“ zur Technokultur auch Sinn. Die Kapitulation vor dem akustischen Terror machte das Spielen mit dem Rhythmus erst möglich. Irgendwann sind die Bewegungen aber der Gleichförmigkeit erlegen und mechanisiert. Am Ende ist Techno vielleicht wirklich nur noch aerobictauglich.

Die „Patienten“ machen in der „Einzelbehandlung“ eine analoge Erfahrung, die vielleicht sogar „bewußtseinserweiternd“ ist wie eine Sitzung im Iso-Tank oder eine Nacht im Tresor 1992 unter Ecstasy-Einfluß. Aber ein „Übungsprogramm für das Überleben unter Zukunftsbedingungen?“ Statt ins All zu emigrieren, werden wir in vorstellbarer Zukunft vermutlich eher stundenlang vor Terminals sitzen. Wirbelsäulendeformationen und Sehnenscheidenentzündungen werden die einzigen Symptome sein, die uns daran erinnern, daß wir überhaupt Körper haben, und das Fehlen körperlicher Reize nur ungenügend kompensieren. Meine Begleiterin ist darauf jetzt allerdings bestens vorbereitet – sie wurde in eine Tonne eingesperrt. Einziger Kontakt zur Außenwelt: ein rechteckiges Fenster, Windows 96. Ulrich Gutmair

Einzelbehandlung vereinbaren? Bis 20.1., Di.–Do., Tel. 2826185