: Rechnen gegen den Agrarchauvinismus
■ Grüne Agrarpolitiker wollen EU-Haushalt umschichten, um Bauern in Mittel- und Osteuropa beim Beitritt zu helfen
Bonn (taz) – Ein Euro-Alptraum: Die beitrittswilligen Reformstaaten in Ost- und Mitteleuropa (OME) treten als ersten Schritt in den europäischen Agrarmarkt ein und unterwerfen sich seinen Regeln. Während aus dem Westen importierte verarbeitete Lebensmittel aus hochsubventionierten Rohstoffen die regionalen Märkte zerstören, müssen bald bäuerliche Familienbetriebe schließen. Die Regierungen in Prag oder Warschau können die sozialen Folgen kaum dämpfen, denn Brüssel stellt ihnen dafür keine Unterstützung zur Verfügung. Bauern ohne Einkommen marschieren in die Hauptstädte und finden dort politische Unterstützer für ihre Forderung nach einer Rückbesinnung auf nationale Stärke gegen die Invasion aus dem Westen...
So oder ähnnlich sieht das Szenario aus, vor dem die bündnisgrünen Agrarexperten Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf und Antje Vollmer warnen. Ihre These: Die geplante Überstülpung der umstrittenen und teuren EU- Agrarpolitik auf die Landwirtschaft der OME-Staaten gefährde die europäische Einigung, die sie voranbringen solle.
„Wir wollen die Osterweiterung, aber nach anderen Prinzipien“, heißt das Ziel von Antje Vollmer. Die Bundestagsvizepräsidentin und der Europaabgeordnete wollen die Debatte um die Osterweiterung nämlich zugleich nutzen, um die EU-Agrarpolitik insgesamt gründlich zu reformieren und Fehlentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte zu korrigieren.
Graefe zu Baringdorf hat dazu dieser Tage ein grünes Strategiepapier vorgelegt, das konkrete Vorschläge für eine Umorientierung des EU-Haushalts für Agrar- und Strukturpolitik enthält. 15 Milliarden Ecu (knapp 30 Milliarden Mark) könnten aus dem 38Milliarden-Ecu-Agrarhaushalt der EU gestrichen werden. 10 Milliarden davon könnten für Hilfen in Zentral- und Osteuropa eingesetzt werden. Durch Umschichtungen im Agrarsubventionssystem der EU sollen gleichzeitig stärkere Anreiz für Energieeffizienz, ressourcenschonendes Wirtschaften sowie Sozialverträglichkeit geboten werden (Kürzungsvorschläge siehe Tabelle).
Entschieden wendet sich Graefe zu Baringdorf gegen das Vorhaben der EU-Kommission, die subventionierten Exporte in die OME-Staaten aufrechtzuerhalten, gleichzeitig aber die umwelt- und sozialpolitischen Ausgleichsmaßnahmen zu nationalen Anliegen zu erklären, weil sie von Brüssel aus nicht zu finanzieren seien: Der Aufbau funktionsfähiger regionaler Agrarmärkte in den Beitrittsstaaten werde damit durchkreuzt.
Am Ende der Entwicklung sollen sich die 500 Millionen europäischen Verbraucherinnen und Verbraucher auf einheimischen Märkten versorgen – und die EU keine Überschüsse mehr erzeugen, weil die Agrarpolitiker auf die Importe von Billigfuttermittel verzichten, die Exporterstattung zurücknehmen sowie möglichst auf alle staatlichen Eingriffe in den Agrarmarkt verzichten. Weil es bis zu dieser grünen Utopie ein sehr weiter Weg ist, verweist der Europaabgeordnete auf den Mut des eigenen Vorhabens: „Wir sind die ersten, die sich getraut haben, ein geschlossenes Konzept für die Osterweiterung vorzulegen.“ Hans Monath
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