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Postprotestantische Anrufung

Langer, grauer Film über die Gemütlichkeit der DDR-Depression: Frank Beyers „Nikolaikirche“ — nach einem Roman von Erich Loest  ■ Von Anke Westphal

Als der Schriftsteller Erich Loest sich daranmachte, herauszufinden, was es mit den Legenden über die letzten Tage der DDR auf sich hatte, war er so klug, sich auf einen repräsentativen Ausschnitt zu beschränken. Loest wählte die „Familie als kleinste Zelle der Gesellschaft“. In seinem Roman „Nikolaikirche“ erzählt er die Geschichte der Familie Bacher aus Leipzig zwischen 1987 und dem Oktober 1989, deren historische Voraussetzung wiederum die Jahre zwischen 1932 und 1987 sind. Der Regisseur Frank Beyer hat Erich Loests Roman adaptiert und fürs Fernsehen verfilmt. Jetzt wird die Kinofassung gezeigt, 138 Minuten und „schon eine Antwort“, so Erich Loest.

Ausgangspunkt ist der Tod des hochdekorierten Antifaschisten und Volkspolizei-Offiziers Alfred Bacher, der in einem sehr umfassenden Sinn das Ende einer Epoche markiert. Major Bacher erleidet beim Übungsschießen ganz einfach einen tödlichen Herzinfarkt. So heroisch seine Überzeugungen waren, so banal ist sein Sterben – mit der Waffe in der Hand und doch nicht durch die Waffe. Alfred Bachers Tod ist der Tod einer verwaltenden Macht. Seine Tochter Astrid (Barbara Auer), eine Architektin, gerät darüber in die tiefste Sinnkrise ihres Lebens. Ihre Ehe verströmt schon lange einen Duft von Depression. Ihr Bruder Sascha macht als Hauptmann Stasi-Karriere und bespitzelt die eigene Familie. Ihre Mutter will nicht wahr haben, daß der Staat, an dessen humanistische Solidität sie glaubte, in den Fundamenten bröckelt. Astrids Tochter Silke richtet sich lieber gleich in der Morbidität ein: Sie lebt in einem Abbruchhaus mit dem Prototyp eines jungen Rebellen – Lederjacke, Palästinensertuch und Rotwein. Familie Bacher bildet die DDR konkret im Kleinformat ab. Loest, selbst Leipziger, hat fünf Jahre an dieser Geschichte gearbeitet, die seine höchstpersönliche ist. Zwei Jahre benötigte er allein, um seine über zehntausend Seiten fassenden Stasi-Akten zu studieren. Weil solchermaßen Politik immer auch Ausdruck der individuellen Psychologie eines Volkes ist, fand Regisseur Frank Beyer in „Nikolaikirche“ einen „Stoff von nationaler dramatischer Dimension“.

Doch Beyer wäre nicht der penible Soziopathologe, als den ihn Filme wie „Nackt unter Wölfen“, „Spur der Steine“ oder „Jakob der Lügner“ ausweisen, wenn er diese volltönende „nationale dramatische Dimension“ nicht aufs Moralische verkleinern würde. Beyers „Nikolaikirche“ beschreibt einen Konflikt zwischen Staatstreue und Widerstand, ganz gleich, auf welche Figur sich die Kamera richtet.

Apropos: „beschreibt“. Der Redakteur Martin Wiebel hat es in den Produktionsnotizen auf den Punkt gebracht, daß „Frank Beyers Film ,Nikolaikirche‘ mit den optischen Erinnerungen konkurriert, die jeder Zuschauer an die Berichterstattung über die Ereignisse am Ende der DDR hat“. Das Dilemma ist diesem Film anzumerken: Wo endet die Spielbarkeit von Geschichte, wo beginnt ihre Bebilderung? Daß eine dramaturgische Antithese tatsächlich Geschichte abbildet, mag man vielleicht bezweifeln, wenn man Ulrich Mühe als Jeans-Pastor Ohlbaum von der „Verstocktheit der Herrschenden“ predigen und Peter Sodann am anderen Ende des realsozialistischen Kreislaufs von „ideologischer Diversion“ reden hört, aber es war so.

„Nikolaikirche“ ist ausgezeichnet besetzt und ein langer, langsamer und grauer Film – also auch in ästhetischer Beziehung ein getreues Abbild der teuren Untergegangenen. Was da an endlosen Bücherwänden, Kerzenleuchtern, postprotestantischer Anrufung und Chopin-induzierter Melancholie rekonstruiert wird, jagt einem noch im nachhinein einen Schauer des Wiedererkennens über den Rücken: Wie gemütlich eine Depression doch sein kann. Nichts bewegt sich außer dem Plattenteller. Ich wage sogar zu behaupten, daß dieser psycho- ethnographische Aspekt das Eigentliche von Beyers Film ausmacht. Nicht umsonst konzentriert er sich so darauf, Astrids Depression einer staatlich vermittelten Handlungsunfähigkeit zuzuschreiben. Sie wird krank, als sie erkennt, daß staatlicherseits „mit Schutz Kontrolle gemeint ist“, aber sie wird für krank gehalten, weil sie sich weigert, den Schutz durch die Macht in Anspruch zu nehmen und eine weitere Jubelstudie über den baulichen Zustand Leipzigs zu unterschreiben. Als Astrid, aus der Nervenklinik entlassen, Flugblätter verteilt und mit ihrem Mann „Wir sind das Volk!“ ruft, leuchtet die Zukunft – eine bunte, schnelle und sehr kurze Zeit.

Doch dieser neue Zeittunnel und sein Ende sind ebensowenig Gegenstand des Films wie das Dokumentarische. „Nikolaikirche“ setzt die Stasi-Bilder als medial vermittelte, also Fernsehbilder ein, denn es geht um Geschichte über Geschichten. „Nikolaikirche“ endet mit der großen Leipziger Demonstration, in die sich Astrid und ihr Mann einreihen. Politik kittet die Ehe, die privaten Schwierigkeiten heben sich in der großen Gesamtlösung auf – ein noch von früher vertrautes Motto. Wenn man aber selbst Varianten von „Nikolaikirche“ erlebt hat, mag man etwas mehr als ein „filmisches Gedächtnis“ von so einem Film erwarten.

„Nikolaikirche“. Regie: Frank Beyer. Mit Barbara Auer, Daniel Minetti, Peter Sodann, Ulrich Mühe, Otto Sander u.a. Deutschland 1995, 138 Minuten

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