„Suchen tut mich keiner“

■ Ungefähr 7.000 Kinder leben in Deutschland auf der Straße. 40 von ihnen haben ein Buch darüber geschrieben

Berlin (taz) – Lila Haare, Lederjacke, Hundehalsband und Tigerhose – so steht Zora (17) unter der Weltzeituhr am Berliner Alexanderplatz. Sie ist ein Straßenkind, abgehauen, „weil meine Mutter mich prügelt, solang ich denken kann“. Zusammen mit Pia, Luggi und Krümmel spricht sie mit Passanten, gibt Autogramme. Sie wollen für ein Buch werben – ihr Buch: „Suchen tut mich keiner“. Der Titel ist Appell. 7.000 ausgebüxte Kinder leben nach Schätzungen auf der Straße, im besetzten Haus, in der Abrißbaracke oder im Bauwagen. „Die Kinder wünschen sich, daß ihre Eltern sie suchen – als Liebesbeweis“, erklärt Jörg Richert, Sozialarbeiter im Berliner Verein Karuna. In dem Buch schreiben 40 Kids über „Ein Tag in meiner realen Hölle“, „Zoff zu Hause von unten bis oben“ und ihre Träume. Das erste Buch von Straßenkindern. Es entstand aus der Arbeit von Karuna. Deren Sozialarbeiter setzen auf ein „niedrigschwelliges Angebot“: Im Café „DrugStop“ oder über eine mobile Teeküche suchen sie das Gespräch mit den Kids – ohne Vorbedingungen. Angeregt durch die Hamburger Obdachlosenzeitung Hinz & Kunz startete Richert eine Zeitung mit den Straßenkids – „die Resonanz war überwältigend.“

Das war im Mai 1994. Inzwischen erscheint alle zwei Monate Zeitdruck mit Artikeln von Straßenkids auch aus Cottbus, Augsburg und Köln. Zwar ist Zeitdruck mit einer Auflage von 8.000 Exemplaren bundesweit lange nicht so erfolgreich wie sein Vorbild Hinz & Kunz (Auflage 120.000), doch das Material reichte inzwischen für ein Buch.

Mit „Suchen tut mich keiner“ will Richert vor allem Eltern erreichen, aber auch für Schulen sei das „lebensnahe Werk“ geeignet. Etwa der Text vom 15jährigen Kai: „Ausgegeben hab' ich für Drogen 'nen Hunni am Tag. Das Geld hatt' ich durch Autoknacken. Manchmal habe ich in der Nacht 40 bis 50 Autos aufgemacht. Das über drei Jahre hinweg, will ich lieber nicht nachrechnen ...“ Matthias Urbach