: Nicht hoffen, sondern schreien
■ betr.: „Abschied von der Pauk schule“, taz vom 3. 9. 96
Reinhard Kahl hatte schon immer sehr vernünftige Ansichten über Schule, Universität und Bildung allgemein. Allerdings ist er jetzt anscheinend Opfer seines eigenen „wishful thinking“ geworden. Nach dem Motto „minus mal minus ergibt plus“ zaubert er aus einer dreifachen Katastrophe eine Hoffnung für die Zukunft. [...]
Schön wär's. Leider ist das Gegenteil der Fall. Während es sicherlich einige Bildungsidealisten gibt, die GEW, die jungen Unternehmer und die Verfasser der nordrhein-westfälischen Bildungsstudie, ziehen sich diejenigen, die an den Entscheidungspositionen sitzen, angesichts der Krise auf Altbewährtes zurück. Der Trend geht in die Gegenrichtung: In der beruflichen Ausbildung setzen die Bildungsakteure nach Wunsch der Unternehmer auf mehr Maloche und weniger Bildung (sprich: weniger Zeit zum Nachdenken). In der Universität sollen Professoren mehr Stunden geben (sprich: noch weniger Betreuung, noch weniger kreative Forschung, noch weniger Phantasie in den Kursen) und die Studenten sollen schneller, zielgerichteter und mit mehr Prüfungen (das ist seit Jahren der Trend) ins Ziel gelangen (sprich: weniger Zeit zu kreativen Lernformen). In der Schule wurden auf Beschluß der KuMi-Konferenz gerade die Wahlmöglichkeiten eingeschränkt und die klassischen Kernfächer gestärkt. Mit der Einrichtung des Landesschulamtes in Berlin wurde Autonomie abgebaut, und in den Lehrerzimmern geistert eher die Parole „weniger Firlefanz, mehr sicheres Wissen“ herum. Etwas anderes als Frontalunterricht ist übrigens in Berlins neuen siebten Klassen (mit 32 bis 36 Schülern) gar nicht mehr möglich – bewegen kann sich da im Unterricht nämlich keiner mehr, die Klassenzimmer sind viel zu klein.
Ich teile Kahls Ideale voll und ganz. Es wundert mich auch, daß angesichts des Sparzwanges in Berlin niemand auf die Idee gekommen ist, zum Beispiel das Landesprüfungsamt ersatzlos abzuschaffen, das jeglicher Daseinsberechtigung entbehrt (die Unis könnten die Prüfungen auch alleine – weniger denkfeindlich – hinkriegen). Statt dessen wird weiter gegängelt, bürokratisiert, geregelt und zu Tode verordnet. Seit kurzem gibt es hier jetzt auch ein Landeslehrerprüfungsamt! Und als Zusatzregelung zur Neufassung der Verordnung über die Zweite Staatsprüfung für Lehrer von 1990 ist inzwischen sogar die Anzahl der Anschläge pro Zeile für die schriftliche Arbeit geregelt (eine Seite hat 38 Zeilen à 65 Anschläge!). Von mehr Freiheit, Autonomie, Kreativität, Teamgeist und Experiment nirgends eine Spur – wenn überhaupt geht es zurück zur Paukschule und zur lückenlosen Überwachung von oben. Mann sollte nicht hoffen, wie es Kahl andeutet. Man muß schreien! Martin Klepper, Berlin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen