„Gesundheit kann nicht als Ware im Wettbewerb gehandelt werden.“

■ Der Frankfurter Medizin-Soziologe Hans-Ulrich Deppe bestreitet, daß es eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen gibt

taz: Bundesgesundheitsminister Seehofer spricht immer von einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Gibt es die?

Hans-Ulrich Deppe: Nein, die Ausgaben in diesem Bereich explodieren nicht und sind auch nie explodiert. Im Gegenteil: Seit 1975 sind sie nahezu konstant geblieben, zwischen acht und neun Prozent des Sozialproduktes. Allerdings sind die Beitragssätze der Krankenkassen gestiegen.

Warum?

Das ist zurückzuführen auf den Anstieg der Massenarbeitslosigkeit. Wenn immer weniger ihre Beiträge zahlen können, müssen die Erwerbstätigen einfach mehr bezahlen.

Seehofer will einen freieren Wettbewerb im Gesundheitswesen, um die Gesundheitskosten insgesamt und damit die Lohnnebenkosten zu senken. Ist das sinnvoll?

Der Zusammenhang zwischen mehr Wettbewerb und Senkung der Lohnnebenkosten ist äußerst fragwürdig. Das Beispiel USA, wo ja der Wettbewerb im Gesundheitswesen am ausgeprägtesten ist, bestätigt genau das Gegenteil. Dort betragen die Ausgaben für Gesundheit 14,3 Prozent des Sozialprodukts, wobei knapp ein Viertel dieser Summe allein für die Verwaltung ausgegeben wird. Das liegt beides deutlich über den heutigen Ausgaben in Deutschland. Dieser bürokratische Wasserkopf tritt eben nicht in den sogenannten Sozialstaaten auf, sondern in den Staaten, wo der freie Wettbewerb am weitesten verbreitet ist.

Kann man denn die Verhältnisse in den USA so ohne weiteres auf Deutschland übertragen?

Nein, das kann man nicht. Jedes Gesundheitssystem hat sich in einem Land selbst zu entwickeln. Aber: Bei der Gestaltung unseres Systems wird ja hauptsächlich in die USA geschaut. Dieser Neoliberalismus, in dem die Armen immer draufzahlen, schwappt jetzt hierüber zu uns. Davor sollte man warnen.

Die Verbindung von Gesundheitskosten und Lohnnebenkosten wird von Seehofer immer in den Zusammenhang mit der Standortdebatte gebracht. Ist das ökonomisch und ethisch zulässig?

Diese Argumentation halte ich ebenfalls für äußerst fragwürdig. Nach einem IFO-Gutachten ist der Wirtschaftsstandort Deutschland viel besser als sein Ruf: Die Lohnnebenkosten seien eben nicht übermäßig gestiegen und bewegten sich weltweit im Mittelfeld. Ökonomisch ist dieses Argument Seehofers also falsch. Er will offensichtlich mit Macht eine Veränderung unserer Gesellschaft, und da sind wir wieder beim Neoliberalismus. Auch ethisch ist es natürlich ungeheuer fragwürdig, wenn ökonomische Gesichtspunkte entscheiden, ob jemand früher oder später stirbt.

Nun basiert das deutsche Gesundheitswesen auf dem Solidarprinzip. Kann das in einem Wettbewerb aufrechterhalten werden?

Ich bezweifle, daß es einen solidarischen Wettbewerb geben kann. Ich denke vielmehr, daß ein Wettbewerb das Solidarprinzip aushöhlen wird. Man muß bedenken, daß Krankheit und Gesundheit nicht als Ware auf einem freien Markt gehandelt werden können. Man kann sich das ja nicht kaufen.

Welche Konsequenzen wird denn ein Wettbewerb auf das Verhältnis zwischen Arzt und Patient haben?

Es werden mehr Leistungen erbracht werden, die die Patienten wünschen gegenüber jenen, die sie brauchen. Außerdem wird das spezifische Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient immer mehr zu einem kommerziellen Vertragsverhältnis.

Was heißt das konkret?

Der Arzt wird den Patienten noch stärker unter dem Gesichtspunkt sehen, wie er ihn abrechnen kann, und für welche Leistungen er kassieren kann. Nun kann man sagen, gut, das sind Leistungen, die der Patient braucht, oder die ihm noch nicht schaden. Vielleicht sagt der Arzt aber auch: Mensch, ich habe doch das neue Röntgengerät, das muß ja noch amortisiert werden. Dann röntge ich doch gleich mal. Und das verursacht nicht nur unnütze Kosten, sondern kann sogar gesundheitlichen Schaden verursachen.

Aber das passiert doch auch schon heute.

Ja, sicher. Aber wenn die Ärzte heute schon über Einkommensverluste klagen, wird das bei Inkrafttreten der neuen Regelungen eher noch begünstigt werden. Interview: Florian Gless