: „Ludaci“, die Verrückten von Sarajevo
Ohne Betten hausten die Patienten der psychiatrischen Klinik in einem ehemaligen Kindergarten – zwei Jahre lang. Mehrere Male schlugen Granaten ein. Löcher wurden einfach mit Folie überklebt ■ Aus Sarajevo Andreas Wunn
„Cigarete“, sagte die alte Frau mit Kopftuch etwas zu laut zu jedem, der an ihr vorbeigeht. Es riecht nach Urin und Zigaretten. Im Flur bricht das Licht durch die schmierigen Fensterscheiben. Die Frau sieht hinaus auf die Wand des Nachbarhauses, ihre speichelbedeckten Lippen bewegen sich ununterbrochen. Einige sitzen abwesend auf dem kalten Steinboden, andere schlurfen mit dem Kopf nickend durch den Gang, einer hinter dem anderen. Manche gehen achtlos aneinander vorbei. Von irgend jemandem eine Zigarette ergattern, etwas anderes haben sie nicht zu tun.
In jedem der Schlafräume stehen eng nebeneinander über 20 Betten. Die Luft ist stickig, viele der Patienten liegen dösend auf den Laken. Einige wenden sich um, wenn man eintritt. Durch die großen Fensterscheiben sieht man hinunter in die Stadt. Im Winter dringt die Kälte durch das dünne Glas. Eine Heizung gibt es nicht im Hause.
Im Aufenthaltsraum starren alle auf einen flimmernden Fernseher. Sie sitzen auf Kinderstühlen, essen an Kindertischen. „Ludaci“, Verrückte, werden sie von den Menschen in Sarajevo genannt. In den Kriegsjahren hat sich niemand um sie gekümmert. Die Stadt war eingekesselt, der Krieg allgegenwärtig. Man hatte andere Sorgen.
Vor Beginn des Krieges gab es vier psychiatrische Krankenhäuser in Bosnien-Herzegowina, drei davon auf serbischem Gebiet. Jetzt gibt es nur noch die städtische Psychiatrie in Sarajevo. Niemand weiß, wohin die anderen Patienten geflohen sind. Die Psychiatrie liegt heute an einem Seitenhang von Sarajevo im Stadtteil Bjelave. Das zweistöckige Gebäude mit den dünnen Wänden steht auf einer Anhöhe und ragt aus den anderen Häusern hervor. Im Juni 1992 wurden knapp 100 Patienten hierher in einen ehemaligen Kindergarten verlegt, weil sie aus dem alten Heim, einem frisch renovierten Krankenhaus, von der serbischen Armee vertrieben wurden. Gleich zu Beginn des Krieges war der Kindergarten wegen der gefährlichen Lage geschlossen worden. Für die „Ludaci“ war das Haus gut genug.
Dr. Amira Teftedarija nimmt eine Türklinke aus der Tasche ihres weißen Kittels und öffnet die Tür zum Treppenhaus. Vom Balkon aus zeigt sie hinüber zu den Hügeln, die Sarajevo umschließen: „Dort waren die Checkpoints der Serben“, erinnert sie sich, „von dort haben sie auf uns geschossen.“ Amira Teftedarija arbeitet seit fast 20 Jahren in der Psychiatrie in Sarajevo. Auch während des Krieges hat sie zusammen mit einer Handvoll Kollegen ausgehalten. Heute arbeiten hier wieder fünf Psychiater und drei Ärzte. Mehrere Male schlugen Granaten in das Haus ein. Löcher sind notdürftig mit Klebeband versorgt. Das Dach ist beschädigt. Im Aufenthaltszimmer der Ärzte klafft ein tennisballgroßes Loch in der Wand. Früher stand genau hier ein Sofa. Glücklicherweise saß niemand darauf, als die Granate einschlug. Jetzt steht das Sofa auf der anderen Seite des Zimmers, weg vom Fenster. Zwei Patienten wurden während des Krieges verletzt. Einer wurde von einem Granatensplitter am Bein verwundet. Er blutete stark, eine Panik brach aus. Ein anderes Mal erwischte ein Heckenschütze einen Patienten im Schlaf.
Das Haus hat keinen Keller, die zerschossenen Fenster sind mit durchsichtigen Folien überklebt. Monatelang gab es weder Strom noch Wasser. Einige Patienten hatten eine einfache Art, mit der ständigen Gefahr umzugehen: Sie zogen die Vorhänge zu und fühlten sich sicher. Darüber kann Frau Teftedarija heute nur traurig lächeln. „Während des Krieges war alles wichtiger als die Psychiatrie“, erzählt sie, „in den ersten zwei Jahren hatten wir keine Betten, die Patienten mußten auf dem Boden schlafen.“ Danach half das Rote Kreuz mit Matratzen aus.
An die Kriegszeit will sich hier niemand erinnern. „Schrecklich, schrecklich“, das ist das einzige Wort, das Vladimir zum Krieg einfällt. Viele seiner Mitpatienten begriffen nicht, was jenseits der kahlen Wände vor sich ging. Vladimir jedoch kann sich genau erinnern. An die Granaten, an die Angst. Ende 20 wird er sein. Sein schwarzes, kräftiges Haar ist ungekämmt. Die blasse Haut über den eingefallenen Wangen, die schwarzen Ränder unter den Augen lassen ihn älter erscheinen. Auf die Frage, warum er hier sei, zeigt er stumm seine Pulsadern. Kleine, langgezogene Narben. Seit 15 Jahren ist er psychisch krank, lebte bei seiner Familie. Vor vier Jahren starb sein Vater, Vladimir wollte sich umbringen. „Manchmal werde ich so wütend“, sagt er, aber jetzt gehe es ihm besser. Er spricht gebrochen Englisch. Früher hat er Grafik-Design gelernt, erzählt er.
Plötzlich wütendes Geschrei aus einem der Schlafräume. Eine Ärztin kommt entsetzt aus der Tür, ihre Haare, ihr Gesicht und ihr weißer Kittel sind besudelt mit braunem Kaffeesatz. Ein Patient hat eine Tasse Kaffee nach ihr geworfen. Ein anderer Arzt stürzt auf ihn zu und versetzt ihm Tritte. Still kauert sich der hagere Mann dann in eine Ecke. Vladimir ist das peinlich, er zieht uns in eine andere Ecke des Flures. „So etwas passiert öfters“, meint er.
Vladimir ist einer der leichten Fälle. Andere leiden unter schwerer Schizophrenie, Psychosen, Depressionen oder Epilepsie. Manchmal durften sie in die Stadt gehen, auch während des Krieges. Vladimir suchte auf der Straße nach Zigarettenstummeln und zündete sie sich an.
Manchmal kamen Journalisten während des Krieges und brachten Zigaretten mit, doch sie kamen immer nur einmal. Frau Teftedarija hat mit Journalisten schlechte Erfahrungen gemacht. „Wir waren nicht interessant genug“, sagt sie zynisch, „Journalisten und Kamerateams aus aller Welt kamen und fragten, ob bei uns vergewaltigte Frauen, traumatisierte Kinder oder kranke Soldaten behandelt werden.“ Doch die Patienten waren schon alle vor dem Krieg in der Anstalt. Erhoffte und versprochene Hilfe blieb aus.
Ein Tag in der Psychiatrie ist wie jeder andere. Nach dem Frühstück gibt es Medikamente, aber die reichen nicht für alle Patienten. In einer provisorischen Küche wird gekocht, am Nachmittag Gruppentherapie, danach werden die Patienten sich selbst überlassen. Einige bekommen Besuch, andere dürfen in die Stadt gehen. „Früher, vor dem Krieg, hatten wir auch Arbeitstherapien“, erinnert sich Frau Teftedarija.
Ein älterer, gebeugter Mann trippelt auf uns zu. Er ist unrasiert, seine Augen sind gerötet. Die abgewetzte Anzugjacke ist ihm zu groß. Drei Brüder habe er im Krieg verloren, Frau Teftedarija nickt. Schon will er wieder abziehen, dann fragt er nach einer Zigarette.
Jetzt, nach Ende des Krieges, gehe es besser, erzählt Frau Teftedarija weiter. Das klingt bei ihr so, als wolle sie sich selbst Hoffnung machen. Ihre einzige Tochter ist vor zwei Jahren mit ihrer Tante nach Deutschland geflüchtet. Frau Teftedarija hat sie zweimal besucht, bei Trier an der Mosel. Sie hat lange überlegt, ob auch sie ganz nach Deutschland gehen soll. Doch sie hat sich für Sarajevo entschieden. Die Tante ist vor wenigen Monaten zurückgekommen. Die Tochter ist jetzt 16 und will nicht mehr zurück nach Bosnien. Frau Teftedarija lächelt, sie könne es verstehen, meint sie leise. Der Schmerz sitzt tief, doch das sagt sie ihrer Tochter nicht.
„Einige Patienten könnten zurück zu ihren Familien.“ Frau Teftedarija spricht am liebsten über ihre Patienten. „Doch die meisten Familien sind geflüchtet, haben kein Haus mehr.“ Ihre Häuser standen auf serbischem Gebiet. Manche sind in Deutschland. Die Patienten wissen nicht wohin, bleiben im Heim.
Mit dem klapprigen Lada geht es in das Viertel Jagomir, am Rande der Stadt, nur ein paar Autominuten vom ehemaligen Olympiastadion entfernt. Geschickt umfahren wir die Schlaglöcher. Am Straßenrand zeigen zerborstene Wegweiser mit den fünf Ringen von den Winterspielen 1984 zu den verschiedenen Sportstätten. Der Lada hält vor einem Tor. Hier hat Frau Teftedarija früher gearbeitet, auf einem 23 Hektar großen Gelände steht das ehemalige psychiatrische Krankenhaus. 350 Patienten fanden hier vor dem Krieg Platz, insgesamt 29 Psychiater und Ärzte betreuten die Patienten. Die serbische Armee benutzte die Gebäude als Waffenlager und Unterkunft. Nach dem Dayton-Abkommen mußte sie im April die Gebäude räumen. Im Inneren des Hauptgebäudes sind Heizungs- und Wasserrohre herausgerissen, einige zertrümmerte Betten stehen herum, Glasscherben übersäen den Boden, Kabel hängen aus den Wänden. „Hier war mein Büro, es ist alles zerstört.“ Nicht Haß, sondern Verbitterung und Unverständnis liegen in der Stimme von Frau Teftedarija. „Sie haben sogar die Kissen zerschnitten.“
Knapp zwei Millionen Mark benötigt die Stadt, um das alte Krankenhaus wieder herzurichten. „Wir brauchen wieder ein richtiges psychiatrisches Krankenhaus“, sagt Frau Teftedarija, „viele Menschen in Bosnien brauchen Hilfe. Der Überlebenskampf ist vorbei. Jetzt denken sie darüber nach, was sie alles verloren haben. Sie verfallen in Depressionen, genauso wie diejenigen, die durch den Krieg zum Krüppel wurden. Einst waren sie Helden, jetzt müssen sie in der Fußgängerzone betteln.“
Ja, es sei schön gewesen im alten Krankenhaus, erinnert sich auch Vladimir. Doch jetzt habe er die Hoffnung, nach England zu gehen. „Glaubst du, daß mein Englisch reicht“, fragt er. Seine Schwester wohnt in London. Das Rote Kreuz kümmere sich um ein Visum. Später erzählt Frau Teftedarija, daß es für Vladimir schwierig sein werde, ein Visum zu bekommen, wegen seiner Krankheit. Doch das sagt sie ihm nicht.
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