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"Protest der Gedemütigten"

■ Der Philosoph und Politologe Iwan Kristew über die politische Entwicklung in Bulgarien, die Chancen und Risiken der Opposition und die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Europa

taz: Ein Beobachter der bulgarischen Szene hat kürzlich gesagt, daß nach den Protesten nichts mehr so sein wird wie vorher.

Iwan Kristew: Das, was noch vor wenigen Wochen möglich war, ist es jetzt nicht mehr. Das heißt: Für die Menschen hier ist es nicht mehr möglich, mit einem wie auch immer gearteten Kompromiß zwischen der Sozialistischen Partei (BSP) und der Opposition zu leben. Das war aber genau das Modell, daß bei uns 1990 eingerichtet wurde: eine Vereinbarung zwischen der kommunistischen und der nichtkommunistischen Elite. Die Menschen blieben davon ausgeschlossen. Eine Beteiligung am politischen Prozeß ist aber genau das, was sie jetzt einklagen — nicht nur die Ersetzung einer Regierung durch eine andere. Aus diesem Grund gingen die jüngsten Proteste auch viel weiter als während der Wende 1989/1990.

Einer der Motoren der Protestbewegung waren die Studenten.

Die junge Generation hat in den vergangenen Jahren in der Emigration gelebt, im Ausland oder in der inneren Emigration. Innere Emigration, das hieß ein Leben in Nischen, mit Büchern, Musik und einer völligen Gleichgültigkeit gegenüber der Politik. Das drückte sich auch darin aus, daß viele junge Leute nicht an den Wahlen teilnahmen. Diese Emigranten sind jetzt zu uns zurückgekehrt, und zwar auf die Straße. Das ist sehr wichtig: Die junge Generation hat über diesen Protest die Politik für sich wiederentdeckt.

Dann stimmt die These also nicht, die man auch in Bulgarien in den letzten Wochen immer wieder hören konnte: daß hauptsächlich Armut und Hunger die Menschen zu Tausenden auf die Straßen getrieben haben und nicht die Forderung nach mehr Demokratie wie beispielsweise in Serbien.

Die Menschen, die wochenlang demonstriert haben, sind nicht nur hungrige Menschen. Das waren genauso Vertreter der Mittelklasse und bestimmter Berufsgruppen. Sie hatten natürlich nie besonders viel Geld, aber sie konnten sich zumindest verwirklichen: Wenn sie wollten, konnten sie Filme drehen, Bücher schreiben oder in Betrieben ihrer Wahl arbeiten. Jetzt erleben die Menschen hier eine Krise des sozialen Status und eine permanente Demütigung. Der Horizont, in dem sie denken, ist der des Überlebens, für die nächsten drei, vier Monate. Das Schlimmste daran ist, daß das Recht auf eine Zukunft ausgelöscht ist und das politische System alle Hoffnungen auf Veränderungen zunichte gemacht hat. Und diese Menschen haben jetzt gesagt: So wollen wir nicht weiterleben.

Kann man die Ereignisse der letzten Wochen in Bulgarien Ihrer Meinung nach als Revolution bezeichnen?

Dieses Wort macht mir angst. Zumal auch die Frage ist, ob eine Revolution in einer postutopistischen Gesellschaft überhaupt möglich ist. Ich denke, daß der Begriff der Revolution im Zusammenhang mit den Demonstrationen eher metaphorisch gebraucht wird. Außerdem haben wir einen Komplex: Es heißt immer, 1990 waren wir nicht radikal genug, man hat uns die Revolution gestohlen. Nein, was jetzt passiert ist, würde ich eher als zivilen Protest bezeichnen, in einem Land mit legitimen Institutionen.

Ideologisch gesehen sind wir zu den gleichen fundamentalen Fragen zurückgekehrt, die bereits 1990 diskutiert wurden. Jetzt spricht Staatspräsident Petar Stojanow von einem Gesellschaftsvertrag. Das ist richtig, denn genau dieser Gesellschaftsvertrag ist 1990 nicht zustande gekommen. Die Menschen blieben ausgeklammert. Das war eine Demokratie ohne Volk.

Wie beurteilen Sie die Ereignisse in Bulgarien im Kontext der Entwicklung in den anderen ex- kommunistischen Staaten?

1990 waren wir ein Teil Osteuropas. Jetzt sind wir ein Teil des Balkans, und die Dynamik des bulgarischen politischen Lebens ist leichter im Rahmen der Entwicklung solcher Staaten wie Serbien und Rumänien zu verstehen. Allerdings gibt es auch da erhebliche Unterschiede. Was die politische Stabilität und die demokratische Entwicklung angeht, haben wir, im Vergleich zu Serbien, einige Vorteile. Wir haben ein ausgebildetes Parteiensystem, eine Verfassung, die mehr oder weniger gut funktioniert. Und was mit das Wichtigste ist: Trotz aller Probleme ist in den letzten Jahren eine autonome Zivilgesellschaft entstanden, nicht zuletzt aufgrund einer freien Presse.

Die Sozialistische Partei hat sich, unter anderem durch ihre Blockadepolitik in den letzten Wochen, hoffnungslos diskreditiert. Somit erscheint die Opposition als einzige Alternative für einen Neuanfang. Wie würden Sie ihren Zustand beschreiben?

Die Opposition, das heißt in erster Linie die Union der Demokratischen Kräfte (SDS) unter Führung von Iwan Kostow, hat sich gegenüber der Gesellschaft geöffnet. Noch 1994 hieß das Motto: Du kannst nicht mit uns sein, weil du „schlechte Eltern“ hattest, Offizier warst. Das ist jetzt anders. Und zum erstenmal hat sie ihr Feindbild gewechselt. War 1990/91 noch eine Art metaphysischer Kommunismus der Gegner, so tauchte jetzt ein konkreter politischer Gegner auf: Die sozialistische Regierung unter Schan Widenow.

Zum erstenmal ist die Opposition dabei, sich als politische Alternative zu profilieren, und die Leute begreifen, warum sie die Opposition wählen sollen. Weil sie an die Macht will, um das Land anders zu führen. Das alles klingt recht einfach, ist aber das Ergebnis eines dramatischen Kampfes innerhalb der Opposition.

Ihr Problem war immer ein existentielles: Für viele reichte es schon aus, in der Opposition zu sein. Aber an die Macht zu kommen, das Land zu regieren, das war nicht ihr Problem. Kostow hat es geschafft, aus der Opposition eine homogene Kraft zu machen, wobei diese Reform noch längst nicht abgeschlossen ist.

Inwieweit ist die Opposition auf eine Machtübernahme wirklich vorbereitet?

Wenn man das in Zahlen ausdrücken könnte, würde ich sagen, die Chancen stehen 50 zu 50. Viel wird davon abhängen, inwieweit die Opposition diejenigen, die jetzt demonstriert haben, an sich binden kann. Wenn die Opposition weiter so auftreten wird, als sei ihr alles erlaubt, wird sie gleich tot sein. Dazu gehört, daß besonders die SDS begreift, daß sich die Führung eines Landes nicht in der Frage erschöpft, welche Verantwortlichen des Bündnisses in der nächsten Regierung sitzen werden.

Die Chance der Opposition besteht auch darin, daß es aus der derzeitigen schlechten Situation nicht viele Auswege gibt. Am Währungsrat führt kein Weg vorbei. Jetzt geht es nur um den politischen Willen, den Währungsrat auch durchzusetzen. Ich glaube, daß Kostow diesen Willen hat und auch die Leute davon überzeugen kann. Das Problem mit vernünftigen Vorstellungen in Zeiten der Krise ist, daß die Menschen diese von konkreten Personen hören wollen. Wenn Kostow das gleiche erzählt wie Widenow, hat nur er die Chance, das auch wirklich durchzusetzen.

Staatspräsident Petar Stojanow hat sich für eine Mitgliedschaft Bulgariens in der Europäischen Union und der Nato ausgesprochen. Was würde das für Bulgarien bedeuten?

Für uns ist das nicht nur eine politisch-miliärische oder wirtschaftliche Frage, sondern die Entscheidung für eine Zivilisation. Es ist für uns die Beantwortung der Frage, auf die wir seit fast 100 Jahren eine Antwort suchen. Wohin gehören wir: zum Orient oder zu einem modernen Europa? Wir haben unsere Wahl getroffen, jetzt ist der Westen am Zug.

Was erwartet Bulgarien konkret von einer Mitgliedschaft?

Zum einen geht es um unsere Verhandlungsposition gegenüber Rußland. Im Gegensatz zu Tschechien oder Polen vertreten wir keine antirussischen Positionen. Wir sind aber der Ansicht, daß wir einen normalen Dialog mit Rußland nur dann führen können, wenn klar ist, daß Bulgarien selbst seine Wahl treffen kann und wir die Chance haben, dem westlichen Bündnis beizutreten. Wir verhandeln mit Rußland dann nicht als ehemaliger Satellit mit einem ehemaligen Imperium, sondern als unabhängiges Bulgarien mit einem neuen Rußland.

Wichtiger noch ist der Prozeß der Modernisierung. Dieser Prozeß kann nur bei einer Intergration in euro-atlantische Strukturen erfolgreich verlaufen. Gerade weil EU und Nato so wichtig sind, richten sich die Hoffnungen vieler Menschen auf Petar Stojanow. Viele glauben, daß er Europa, und dabei vor allem Deutschland, für Bulgarien einnehmen kann. Daß Bulgarien die gleiche Chance gegeben wird wie Polen oder Tschechien. Und vielleicht wird 1997 das Jahr unserer Chance sein. Interview: Barbara Oertel

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