piwik no script img

Als es noch Care-Pakete regnete

Die Abgeordneten des Bundestags würdigen den Marshallplan, mit dem in der Bundesrepublik vor 50 Jahren das Wirtschaftswunder begann. US-Hilfe kam nicht nur aus Großmut  ■ Aus Bonn Bettina Gaus

Seine Kinder fänden seine Erzählungen aus der Zeit, als es in Deutschland nichts zu essen gab, „anekdotisch“, sagt der 60jährige Freimut Duve im Bundestag. Aber ihm falle es eben immer noch schwer, eine weggeworfene Scheibe Brot liegen zu sehen. Er könne nicht anders, als zu denken: „Die gehört da nicht hin.“ Da lächeln viele der älteren Parlamentarier, auch in den Reihen der Union. Der SPD-Abgeordnete hat das Gefühl einer ganzen Generation ausgedrückt.

Der Zweite Weltkrieg ist Geschichte, der Generationswechsel ist vollzogen. Lebendig sind bei vielen Politikern heute noch die Erinnerungen an die Nachkriegszeit. Bundeskanzler Helmut Kohl, Freimut Duve, Manfred Müller (PDS) und Wolfgang Schäuble (CDU), die in der Aussprache zur Würdigung des Marshallplans vor 50 Jahren das Wort ergriffen, waren bei Kriegsende noch nicht erwachsen, Ludger Volmer von den Bündnisgrünen noch längst nicht geboren. Otto Graf Lambsdorff (FDP) hatte als einziger Redner gestern die deutsche Niederlage als Soldat erlebt – als sehr junger Soldat.

Viele Einschätzungen werden im Blick auf die deutsche Geschichte über Generations- und Parteigrenzen hinweg geteilt. Aber in der Beschäftigung mit der Vergangenheit schälen sich auch die Unterschiede klar heraus: Während Redner der Regierungsparteien und der PDS die Verpflichtung, die sich aus dem Marshallplan ergibt, vor allem im wirtschaftlichen Bereich und der Integration Osteuropas sehen, sprechen Abgeordnete von SPD und Grünen mehr von Krieg und Frieden, von Demokratie und Diktatur. Helmut Kohl beschwört das Bild des zerstörten Deutschlands und erinnert sich an die Freude über die ersten Care-Pakete. Der Kanzler schlägt die Brücke zur Gegenwart: Mit der Einigung Europas, der Erweiterung von Nato und EU werde vollendet, was George C. Marshall angelegt habe: „Wir erfüllen sein Vermächtnis im besten Sinne.“

Otto Graf Lambsdorff hält eine betont nüchterne Rede. Er weist darauf hin, daß die Idee des Marshallplans nicht nur Großmut der Westmächte gewesen sei, sondern auch „langfristig angelegte strategische Außenpolitik“. Das deutsche Wirtschaftswunder sei durch eine Politik des „Neoliberalismus“ ermöglicht worden, ein Wort, das heute wie ein „Schimpfwort“ benutzt werde.

Manfred Müller von der PDS befaßt sich vor allem mit der Wirtschaftspolitik, mit der Verpflichtung gegenüber den Menschen im ehemaligen sowjetischen Einflußbereich. „Die Völker Osteuropas“, erklärt Müller, „haben das legitime Recht, auf die Hilfe zu setzen, die sie damals nicht erreichte.“

Freimut Duve setzt da einen ganz anderen Schwerpunkt. „Nie wieder“ seien die beiden Wörter, die ihn in seiner Jugend am stärksten geprägt hätten. Eine Frage gebe es, die an die nachfolgenden Generationen weitergereicht werden müsse: „Wie sind Sieger, die aus einer Demokratie kamen, mit den Verlierern umgegangen?“ Wer die Vorherrschaft wolle, der könne niemals Hilfe zur Selbsthilfe vermitteln: „Diktaturen, die Sieger sind, bleiben Sieger und werden nicht Partner.“

Innere Distanz zur Vergangenheit drückt sich in kleinen Gesten aus. Während die meisten Abgeordneten die Debatte im fast vollbesetzten Plenum ungewöhnlich aufmerksam verfolgen, lesen die bündnisgrünen Fraktionssprecher Kerstin Müller und Joschka Fischer Zeitung. Die Grünen sind die im Durchschnitt jüngste Fraktion des Parlaments.

Der 45jährige Ludger Volmer versucht auch für seine Partei den Brückenschlag von der Vergangenheit zur Zukunft. Er wendet sich gegen das Bild, die Grünen seien antiamerikanisch. Die Kritik an der Außenpolitik der USA von weiten Teilen seiner Generation habe überhaupt nur auf der Basis von Werten entstehen können, die die Amerikaner den Deutschen vermittelt hätten. „Die Kennedys und Martin Luther King waren die Leitfiguren unserer Jugendzeit“, sagte Volmer.

Er forderte einen neuen, globalen Marshallplan, der helfen soll, Hungersnöte und Krisen zu verhindern. Da klatschen fast nur die Grünen. Den anderen Parteien ist Europa näher als der Rest der Welt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen