: „Wer krank ist, soll auch zahlen“
■ Ab dem 1. Juli wird Kranksein teuer. Der Bundestag verabschiedete gestern die dritte Stufe der Gesundheitsreform. SPD: Bestrafungsaktion für Kranke
Bonn (dpa/taz) – Raketen werden stufenweise gezündet. Gesundheitsreformen auch. Dank der Mehrheit von CDU/CSU und FDP im Bundestag werden Kranke in Zukunft mehr zahlen müssen. Vom 1. Juli an sollen Patienten für Arzneimittel pauschal fünf Mark mehr als bislang zuzahlen. Für einen Krankenhausaufenthalt werden pro Tag weitere fünf Mark Selbstbeteiligung verlangt. Krankengymnastik und Massagen können nur noch in Anspruch genommen werden, wenn die Patienten 15 Prozent der Kosten übernehmen. Bei Zahnersatz müssen Versicherte künftig 55 Prozent zuzahlen. Haben sie ihr Gebiß zuvor regelmäßig untersuchen lassen, sind es 45 Prozent. Ferner wurde der umstrittene Passus ins Gesetz aufgenommen, wonach künftig Krankenkassen auch solche Therapieverfahren abrechnen sollen, deren Wirkungsweise nicht wissenschaftlich, sondern „in der jeweiligen Therapierichtung anerkannt ist“ [siehe taz vom 12.6].
Den Krankenkassen wird auch eine Art Strafgeld auferlegt. Erhöhen sie ihre Beitragssätze um einen Zehntelpunkt, müssen sie ihre Zuzahlungssätze um eine Mark erhöhen. Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) verteidigte die umstrittenen Gesetzeswerke, anders könne das hohe Leistungsniveau des deutschen Gesundheitswesens, das „weltweit ganz oben“ stehe, nicht gehalten werden. Rudolf Dreßler, Sozialexperte der SPD, hielt dem Minister entgegen, die Gesetze seien eine „Mixtur aus Bestrafungsaktion für Kranke und gezielter Klientelbedienung zugunsten bestimmter Gruppen im Gesundheitswesen“. Das Motto der Regierung sei: „Wer krank ist, soll auch zahlen“. Die Reform werde keine „müde Mark“ einsparen, sondern sei eine „schiere Abzockerei“.
In den vergangenen Tagen hatte Dreßler schon scharf nachgerechnet. Je nach Packungsgröße trügen die Versicherten 20 bis 40 Prozent der verordneten Arzneimittel aus eigener Tasche. Die Selbstbeteiligung liege heute bei 13,3 Milliarden Mark, bis Anfang 1998 werde sie auf 20 Milliarden ansteigen.
Horst Seehofer beurteilte seine Reform gestern anders. Sparen alleine reiche nicht aus, wenn man keine Leistungskürzungen wolle, sagte er in der kurzen Debatte. Zudem seien die erhöhten Zuzahlungen sozial abgefedert. Chronisch Kranke würden demnächst mit nur einem Prozent ihres Bruttoeinkommens belastet. Gegenwärtig liegt diese Grenze bei vier Prozent. Diese Härtefallklausel, so das Wissenschaftliche Institut der AOK, werde von den wenigsten genutzt. Die Krankenkasse startet zu Monatsende eine Beratungskampagne. Unter der Telefonnummer (0180) 280 06 können sich Versicherte über die Folgen der neuen Regelungen kostenlos informieren. Annette Rogalla
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