piwik no script img

Für den Karneval das Letzte geben

Am nächsten Samstag beginnt sie wieder, die Karnevalssaison in Santiago de Cuba. Alljährlich, selbst in Zeiten der größten Krise, treffen sich hier die besten Musik- und Tanzformationen  ■ Aus Santiago de Cuba Knut Henkel

Die Backen weit gebläht, die Augen blutunterlaufen – jede Ader am Hals des Trompeters ist sichtbar. Mit aller Kraft bläst er in die corneta china, ein trompetenähnliches Horn, das eine quäkende Melodie von sich gibt. Die Trommler nehmen die Melodie auf, steigern sie, werden schneller und schneller – Tänzer und Tänzerinnen zucken ekstatisch im Wirbel der über 30 Musiker, die aus sich und ihren Instrumenten, angespornt durch die Zurufe der Menge, alles herausholen, dessen sie fähig sind. Die große tumba francesa, eine Trommel, die haitianische Sklaven von der benachbarten Insel mitgebracht haben, gibt den Takt an, die Conga-Spieler folgen, und auf den Triangeln, meist alten Autofelgen, den Rasseln und Klanghölzern wird der Rhythmus fortgesetzt.

Alle Jahre wieder wird der Karneval von Santiago de Cuba mit dem Sound Clash der verschiedenen Rhythmusgruppen in der Calle Santa Rita im Herzen der Stadt eröffnet. Die Leute blicken von den Dächern ihrer Häuser erwartungsvoll auf die Menge, stehen auf den windschiefen Veranden oder harren auf der Straße der Dinge, die da kommen. Einige Polizisten machen sich wichtig, versuchen Ordnung in die beiden Trommelformationen, die eine aus dem Stadtviertel San Agustin, die andere aus Martiano, einem Vorort Santiago de Cubas, und deren vielköpfigen Anhang zu bekommen. Mit Seilen hantieren sie, um Zuschauer und Musiker zu trennen, werden jedoch zumeist ignoriert bei ihrem nutzlosen Unterfangen, denn wenn die ersten Trommelwirbel erklingen, gibt es kein Halten mehr.

Lange hat sich die Musikgruppe, nein, das ganze Viertel auf diesen Augenblick vorbereitet. Je näher das ersehnte Datum rückt, desto öfter proben die Musiker und Tänzer. „Einige Wochen vor dem Karnevalsauftakt brach in den letzten Jahren jedesmal eine ziemliche Hektik aus. Musiker wie Tänzer liefen auf der Suche nach Stoff, nach Nadel und Faden oder nach neuen Häuten für die Trommeln durch die Nachbarschaft, denn zu kaufen gab es die Sachen schon länger nicht mehr“, erzählt Marissa, eine Sportlehrerin, die Stoff für Kostüme spendete. Früher gab es eine bescheidene Unterstützung der Regierung, doch mit der wirtschaftlichen Krise wurde auch die gestrichen. „Es ist nicht leicht, alles zu ersetzen, was während des Karnevals kaputtgeht, ob nun Trommeln oder Kostüme. Aber irgendwie geht es, denn auf den Karneval zu verzichten kann sich hier niemand vorstellen, da geben manche lieber ihr letztes Hemd“, sagt Jorge, der seit vielen Jahren der Trommlergruppe von San Agustin angehört.

Alle wollen zur besten Formation gekürt werden, und die Konkurrenz ist groß. Aus allen Teilen Kubas kommen sie in den berühmt-berüchtigten kubanischen Osten. Hier, wo alle Revolutionen, die Kuba je erlebte, ihren Ursprung haben, wollen sie gegen die Besten des Landes antreten – die Gruppen aus der Heldenstadt, wie Santiago von Fidel Castro getauft wurde.

„In Santiago steht die Wiege des kubanischen Karnevals. Hier wird er zelebriert und nicht, wie in Varadero oder seit kurzem auch in Havanna, vorrangig für Touristen aufgeführt“, sagt Juan, ein Maler, der in der Calle Santa Rita lebt und mit leuchtenden Augen darauf wartet, daß der Wettstreit beginnt. Er hält der Gruppe seines Viertels San Agustin die Daumen, damit sie wie 1993 den Sieg davonträgt. Die Formation zählt zu den ersten des Ostens und war bereits auf Tournee im Ausland.

„Hier in Santiago ist alles beim alten geblieben. Wir feiern den Karneval seit über 30 Jahren im Juli – nach der Zuckerrohrernte, warum damit brechen?“ fragt einer der Congaspieler, der sich angesichts von 35 Grad im Schatten und einer 90prozentigen Luftfeuchtigkeit einige kühlende Blätter unter die Mütze geschoben hat. „Nach der Ernte haben schließlich auch die Zuckerrohrschneider allen Grund zu feiern. Und deshalb wird sich nichts daran ändern, daß der Karneval in Santiago seinen Höhepunkt Ende Juli erlebt“, ergänzt Eugenio.

Im Vergleich zur alten Karnevalstradition [siehe Kasten] geht es heute eher ruhig zu. Ehrwürdig aussehende Damen mit weiß gepuderten Alongeperücken, wiegen sich mit ihren Partnern im Schritt der Menuetts und Kontertänze, doch nur vereinzelt lassen sich Zuschauer dazu hinreißen, den einen oder anderen Tanzschritt nachzuahmen und an der Parodie auf die damaligen feinen Herrschaften teilzunehmen.

Schnell verändert sich das Bild, wenn eine der zahllosen Musikgruppen vorbeizieht. Die Zuschauer recken die Hälse, wiegen die Hüften und lassen sich in den Rhythmus fallen und mitziehen – die wenigen Tanzschritte und den Hüftschwung beherrschen schon die Dreijährigen perfekt. Stundenlang, mitunter auch tagelang tanzen die Leute „ihrer“ Gruppe folgend durch die ganze Stadt; unterstützen sie lautstark, wenn sie auf eine andere treffen, feuern sie an, damit die Musiker ihr Letztes geben, um die Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen.

Dann geht es weiter. Mal schneller, mal langsamer, bergauf und bergab durch die schmalen Straßen der Stadt, die auf unzähligen Hügeln gebaut wurde. Am lautesten geht es in den Vierteln am Rande der Altstadt zu. Ab und an legen die Musiker auch mal eine Pause ein, um bei Freunden oder Verwandten etwas zu essen, Kraft zu schöpfen für den Höhepunkt des Tages, die Nacht.

Zehn Tage dauert der Karneval in Santiago normalerweise. Er ist der Höhepunkt der kubanischen Karnevalssaison und folgt den Festen von Trinidad, Sancti Spiritus, Santa Clara und früher Havanna, die alle nur wenige Tage dauern. Reisefreudigen Kubanern bietet sich so die Chance, eine Reise quer durch das Land im anhaltenden Karnevalstaumel unternehmen können. Am Ende treffen sich dann die Tanz- und Trommelbesessenen in der Hauptstadt des carnavals, um dabeizusein, wenn die besten Formationen gekürt werden.

Anders als in Havanna und dem Rest des Landes, wo der Karneval nach fünfjähriger Unterbrechung erst seit 1995 wieder gefeiert wird, fand das wichtigste Ereignis des Jahres in Santiago auch in den schwersten Jahren der „Spezialperiode“, wie die Wirtschaftskrise offiziell heißt, statt. Während allerorten das Geld für den Karneval gespart werden mußte, war in Santiago an derartige Einsparungen nicht zu denken.

Selbst in den schlimmsten Jahren der Krise 1993 und 1994, als die Regierung kaum mehr etwas zu verteilen hatte, fand der Karneval in der rebellischen Hauptstadt des Ostens statt – verkürzt auf drei Tage. Bier wurde in Tankwagen angekarrt und direkt aus dem Schlauch in die Eimer der Kaufwilligen gepumpt. Auch die staatlichen Pizzerien öffneten ihre Pforten, einige Bars zogen ihre Rolläden hoch, um Rum an diejenigen zu verkaufen, die ihre Becher zur Hand hatten.

„Für den Karneval brauchen wir keine großen Festwagen, die passen eh nicht durch die engen Straßen, keine Dekoration, nur den Rhythmus trommeln, hin und wieder einen Schluck Rum oder Bier für die trockene Kehle, nichts weiter“, sagt Juan, der Maler, der seine Bilder mit afrokubanischen Motiven an Touristen verkauft und damit halbwegs über die Runden kommt.

Seit 1995 geht es in Santiago wieder etwas großartiger her. Mit dem einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung läßt sich der carnaval beinahe schon wieder so wie in den 80er Jahren zelebrieren. Statt drei Tage wurden im letzten Jahr bereits sechs Tage gefeiert und in diesem Jahr, Auftakt ist am nächsten Samstag, sollen es sogar schon acht sein. Die Karnevalshochburg Santiago erwacht peu à peu zu neuer alter Größe.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen