: Neue Regeln für den Kapitalismus
Ein moderner Sozialstaat muss Flexibilität, soziale Sicherheit und Qualifizierung ausbalancieren. Die Gewerkschaften können dazu einen wichtigen Beitrag leisten
Für ein Gutteil der Unternehmer und Politiker scheint klar: Die Gewerkschaften wehren sich gegen jede Reform. Hinter den sturmreif geschossenen Schutzmauern des Rheinischen Kapitalismus trotzen IG Metall, Verdi & Co einer Wirtschaft ohne Grenzen und dem Kopfstand der Alterspyramide.
Wer genau hinsieht, merkt jedoch, dass die Gewerkschaften nicht um das Ob streiten, sondern um das Wie. Denn: Wirtschafts- und Sozialsystem sind kein Gegensatz. Historisch lag die Stärke der deutschen Wirtschaft in einer teuren und qualitativ hochwertigen Nischenproduktion. Dieses Modell basiert auf einem guten Ausbildungssystem, stabilen Jobs, dem Flächentarifvertrag und einem ausgeprägten Korporatismus.
Der Sozialstaat entwickelte und pflegte diese allgemeinen Produktionsbedingungen. Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik sorgten für qualifizierte Arbeitskräfte. Arbeits- und Gesundheitsschutz verhinderten deren schnellen Verschleiß. Hohe Lohnersatzleistungen, Kündigungsschutz und eine starke Tarifbindung dämpften die Lohnkonkurrenz. Transfers, Steuern und Konjunkturpolitik glätteten Nachfrageschwankungen und korrigierten die Einkommensverteilung. Tarifautonomie, Mitbestimmung und soziale Risikoabsicherung beschränkten die verteilungspolitischen Konfliktkosten.
Die große politische Herausforderung besteht heute mehr denn je in der sozialstaatlichen Regulierung eines flexiblen und kapitalmarktgetriebenen Kapitalismus. Der Sozialstaat der Zukunft braucht ein ausgewogenes Verhältnis von Flexibilität, sozialer Sicherheit und Qualifizierung. Interne Flexibilität hat dabei Vorfahrt. Mindestlohn, Kündigungsschutz und hohe Lohnersatzleistungen sorgen für ein Mindestmaß an Einkommens- und Beschäftigungsstabilität. Die Risiken prekärer Erwerbsverläufe müssen durch Grundsicherungsmodelle abgedeckt werden.
Ein moderner Sozialstaat setzt auf Prävention. Die volkswirtschaftlichen Kosten betrieblicher Personalpolitik sollten internalisiert werden. Wer sich um die Gesundheit, die Weiterbildung und Beschäftigungssicherheit seiner Mitarbeiter kümmert, bekommt finanzielle Anreize. Wer auf Verschleiß und frühzeitige Selektion setzt, muss für die gesellschaftlichen Kosten aufkommen.
In der Arbeitsmarktpolitik müssen Qualifizierung und Weiterbildung an die Stelle des phantasielosen Drucks durch Transferkürzungen und verschärfter Zumutbarkeit treten. Betriebliche Lernzeitkonten und Erwachsenenstipendien für nachzuholende Schul- und Studienabschlüsse sichern die Beschäftigungsfähigkeit und fördern lebenslanges Lernen.
Ein moderner Sozialstaat betreibt Beschäftigungspolitik. An der Massenarbeitslosigkeit scheiterte bisher noch jede Sozialreform. Die sozialen Dienstleistungen sollten ausgebaut werden. Ein öffentlich geförderter Beschäftigungssektor ist schließlich die Alternative zur passiven Finanzierung von Langzeitarbeitslosigkeit.
Ein moderner Sozialstaat ist aber auch ein investiver Sozialstaat. Deutschland braucht eine breit angelegte Bildungsoffensive für Kinderkrippen, Schulen und Universitäten. Erst eine bedarfsgerechte Ausweitung und ein flexibles Angebot von Betreuungseinrichtungen für Kinder aller Altersstufen schafft die Voraussetzungen, um Familie und Beruf zu vereinbaren.
Für die Finanzierung des zukünftigen Sozialstaates brauchen wir eine breitere Einnahmebasis. Gewinn- und Vermögenseinkommen müssen hierfür steuerlich stärker herangezogen werden. Die Sozialversicherungssysteme sollten zu einer Bürgerversicherung ausgebaut werden. Solche Reformen entwickelten die spezifischen Stärken der deutschen Wirtschaft weiter.
Das wird zweifellos nicht einfach, denn nach dem Kollaps des Realsozialismus und der Öffnung neuer Märkte ist der alte Sozialstaatskompromiss zerbrochen. Die Global Player emanzipierten sich vom Binnenmarkt. Wenn die heimische Nachfrage schwankt, „atmet“ die Fabrik oder die Auslandsmärkte springen ein. Dafür wurde das Tarifsystem umgepflügt, Arbeitszeiten und Löhne stärker flexibilisiert. Drei Viertel aller tarifgebundenen Unternehmen haben Differenzierungs- und Öffnungsklauseln. In vier von fünf Betrieben sind Überstunden, Sonderschichten, Arbeitszeitkorridore und -konten alltäglich. Deswegen können heute Autobauer die Produktion um bis zu 72 Prozent schwanken lassen.
Die Maschinen laufen jetzt durchschnittlich 63 Stunden die Woche. Darüber hinaus senken der Überhang an Arbeitskräften und die internationale Arbeitsmigration die betriebliche Ausbildungs- und Qualifizierungsbereitschaft. Zudem gewinnen marktradikale Flexibilisierungs- und kapitalmarktorientierte Managementstrategien an Boden: Die prekäre Beschäftigung blüht auf Kosten der sozialen Sicherungssysteme. Das Management spart bei Aus- und Weiterbildung, Forschung und Entwicklung, Arbeitsschutz und Gesundheitsförderung, um die Quartalsgewinne zu trimmen.
Mittelfristig werden damit die Grundlagen des deutschen Produktionsmodells unterhöhlt. Niedriglohnstrategien, Sozialabbau und eine mutlose Forschungs- und Bildungspolitik fördern diesen Negativtrend.
Eine löchrige Tariflandschaft, mehr prekäre Beschäftigung und hohe Arbeitslosigkeit schwächen zudem die Lohnpolitik. Die realen Bruttolöhne stagnieren seit Mitte der 90er-Jahre. Die Einkommensungleichheit und der Niedriglohnsektor wachsen. Der schmale Geldbeutel heimischer Kunden beschränkt die Preissetzungsspielräume.
Der hohe Kosten- und Preisdruck gefährdet die technologische Leistungsfähigkeit. Die Strategie des schneller, besser und billiger geht zulasten der Qualität. Allein die Rückrufaktionen in der Automobilindustrie haben sich seit Anfang der 90er-Jahre fast vervierfacht. Deutschlands privilegierte Stellung innerhalb der internationalen Arbeitsteilung ist gefährdet. Zwar garantiert die Spezialisierung auf Hochtechnologiegüter heute noch Exportüberschüsse. Zukünftig werden jedoch die Streber unter den Schwellenländern Preise und Renditen purzeln lassen. Es sei denn, die deutsche Wirtschaft klettert die Technologieleiter weiter nach oben.
Danach sieht es aber nicht aus: Die Zahl der Forscher und Entwickler ist nicht höher als vor zehn Jahren. Laut amtlichen Technologiebericht halten die Innovationsausgaben mit dem Umsatz nicht mehr Schritt. Die staatliche Forschungspolitik kompensiert diese Defizite nicht. Die wachsende Angst vor Arbeitsplatzverlust, Einkommensunsicherheit und ein hoher Leistungsdruck erzeugen ein innovationsfeindliches Betriebsklima.
All diese Probleme sind bekannt und werden von den Gewerkschaften konstruktiv diskutiert. Die Basis für einen Dialog mit Unternehmen und Politik ist also längst gelegt.
DIERK HIRSCHEL