: „Größter Anzunehmender Unfug“
■ betr.: „Kleiner großer Bruder“ von Peter Gauweiler, taz vom 9. 4. 98
Da er im Bayernkurier kaum mehr zum Zuge kommt, darf Peter Gauweiler ab und an in Spiegel oder taz intellektuell fein ziseliert plaudern – geschenkt (ich les mich ja auch gern in der Zeitung). Andererseits: Im Gegensatz zu den gut betuchten Fischers und Trittins, die vor 30 Jahren post-pubertär den Ho-Chi-Minh-Fähnchen hinterherliefen, ist er eben kein harmloser Salonfaschist. Seine Ausfälle anläßlich der Münchner Wehrmachtsausstellung haben dies erneut belegt. Verschont uns also vor weiteren Salven des Traunsteiner Gebirgsschützen – wenigstens bis 2068, zum Hundertjährigen! August Müllegger, Friedberg
Hoffentlich bleibt das keine Ausnahme, daß auch mal einer vom ganz anderen politischen Ufer dem taz-Publikum seine Sicht der Dinge kundtun darf. Und Gauweiler hat sich ja auch sehr zurückgehalten, sicherlich weil ihn Euer Angebot so berührt und nachdenklich gestimmt hat.
Im Gegenzug dürfen wir aber jetzt doch wohl erwarten, daß Joschka oder sein Konkurrent Jürgen vom Bayernkurier oder seiner fast noch radikaleren ostwestfälisch-lippischen Ausgabe, dem Westfalen-Blatt, um einen Meinungsbeitrag gebeten wird. Rechte, die in linken Gazetten schreiben und umgekehrt, das wäre endlich echte Meinungsvielfalt. Uwe Tünnermann, Lemgo
Vielen Dank, Ekkehart Krippendorff. Wenigstens er hat gemerkt, daß Gauweiler, wie erwartet, Größten Anzunehmenden Unfug verzapft hat. Wer in einem Artikel über die 68er zitiert „Der Schoß ist fruchtbar noch...“, hat in der taz nichts verloren. Mit keiner Zeile. Und schon gar nicht mit Honorar. Das ist keine Zensur, sondern vernünftig, weil derart miese Diffamierung in der taz nichts verloren hat.
Apropos „Alt-68er“: Kann mir jemand erklären, was ein „Neu-68er“ ist? So wird geschrieben, wo das Wort den Begriff ersetzt. Deshalb gibt es ja auch bei den Grünen heute noch ohne Ebermann, Ditfurth undundund „Fundis“. Das sind die, die nicht alles richtig finden, was die SPD will. Nur die Hälfte. Ist deshalb eine SPD-/Grüne-Regierung „rot- grün“? Warum denn „rot“? Aus Frankreich weiß die taz doch auch über eine „rot-rosa-grüne“ Regierung zu berichten.
Ist schon Mist, wenn Plakate die Anstrengung des Begriffs ersetzen. Will sagen: Die Sprache ist ein Verständigungs- und kein Abführmittel. Obwohl Gauweiler sie so benutzt. Aber das hatten wir ja schon. Richard Kelber, Dortmund
Es soll wohl ein verspäteter Aprilscherz sein, wenn die taz neuerdings dazu übergeht, meine fast vom Munde abgesparten Abo- und die (hoffentlich zum Teil mit Bauchgrimmen verdienten) Anzeigengelder dazu zu verwenden, über die Auslassungen des alten Reaktionärs Gauweiler irgendeine bayerische Gebirgsschützenkompanie zu subventionieren.
Aus dem Sammelsurium von dahingerotzten Un-, Halb- und ausnahmsweise auch Wahrheiten (Diskussion der Grünen über Blauhelmeinsätze) möchte ich ein Argument herausgreifen und richtigstellen: die Behauptung, die zunehmende „Kinder“(?!)-Kriminalität sei Folge der 68er-Bewegung. Mal abgesehen davon, daß die inzwischen erwachsenen Sprößlinge der 68er zwar meistens ziemlich kreativ, aber doch vergleichsweise brav geraten sind, halte ich es in dieser Hinsicht eher mit der Soziologin Heide Brandt, die vor kurzem in einem Interview des Wissenschaftsjournals von „Radio Kultur“ die zunehmende – auch rechtsradikale – Gewaltbereitschaft von Jugendlichen auf eine Mischung aus Verwahrlosung und autoritärer Erziehung (speziell bei den Unterschichten und besonders in Ostdeutschland) zurückführte. Heinz Eckel, Berlin
[...] Daß Gauweiler ausgerechnet die 68er für die in den letzten Jahren erschreckend angestiegene Kinderkriminalität verantwortlich macht, entbehrt nicht einer gewissen Komik. War es nicht die konservative Regierung seines Parteispezies Kohl, die 1982 mit dem Anspruch einer geistig-moralischen Wende angetreten war und in den vergangenen 16 Jahren große Teile der Gesellschaft in Armut und soziale Verwahrlosung abdriften ließ? Eine genauere Lektüre des Spiegel-Artikels über Kinderkriminalität, auf den sich Gauweiler bezieht, hätte ihm einige wesentliche Ursachen dieses vielschichtigen Problems offenbart: die übermächtige Präsenz des falschen Leitbilds „Reichsein“ in den Medien und die tatsächliche Entwicklung zu einer „Winner-loser-society“, für die in erster Linie die herrschende Wirtschaftspolitik verantwortlich zeichnet. Außerdem werden ein gnadenlos angewandtes Leistungsprinzip und das Prinzip „Leben nach Lust und Laune“ bei vielen Besserverdienenden als Ursachen benannt. Wenn Herr Gauweiler sich selbstkritisch befragen würde, müßte er erkennen, daß sein politischer Werdegang geradezu als Synonym für den Werteverlust stehen könnte, den er wortreich beklagt. Die 1,3 Mio DM, die er aus dubiosen Nebengeschäften (neben seinen opulenten Gehältern als Staatssekretär und Minister) abgeschöpft hat, waren schließlich die Ursache für seinen erzwungenen Rücktritt als bayerischer Umweltminister 1994. Schon vergessen?
[...] Angesichts von demokratiezersetzender Massenarbeitslosigkeit, angesichts der größten Umverteilung von Arm nach Reich in der deutschen Nachkriegsgeschichte, angesichts von zunehmender Armut und sozialer Verwahrlosung und angesichts der Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen, für die gerade auch Herr Gauweiler in der Vergangenheit eingetreten ist (Asylbewerber, Obdachlose, Aidskranke), erscheinen viele Ziele und Forderungen der 68er als brennend aktuell: Demokratisierung der Gesellschaft, Abbau ungerechtfertigter Privilegien, soziale Chancengleichheit, Abbau von Medienmacht und Meinungsmonopolen, Solidarität mit den Armen in der Dritten Welt und Eintreten für eine gerechte und friedliche Weltordnung. Klaus Becker, Winterberg
Der taz sei Dank, sie hätte keine eindeutigere Bestätigung für die Wichtigkeit der 68er-Visionen und -Träume drucken können als das Elaborat des Peter Gauweiler, der uns verrät, wie stark noch das Gedankengut der 30er Jahre in ihm nachwirkt – in diesem „Contra“, der sich mit seiner Selbsteinschätzung tief in die Welt des „My Lai“ zurückversetzt. P. G. verrät uns damit auch seine Denkmodelle, die sich hinter dem krebswuchernden Spätkapitalismus verbergen – dessen „geringste“ Folge – derzeit noch – jene fünf bis sieben Millionen Arbeitslose sind. Gegen diese menschen- und „schöpfungs“-bedrohende Ökonomie träumten die 68er an – und heute können wir weltweit die Folgen des Mißerfolges ihres „hirnverbrannten Blödsinns“ (O-Ton P. G.) beobachten – denn dieser „h. B.“ hätte mit Sicherheit weit niedrigere Arbeitslosenzahlen – aber „natürlich“ auch sehr viel geringere Profit-Prozente und Aktien-Dividenden erbracht.
Heute – in Zeiten einer bereits von Marx voraus-analysierten „Shareholde-value-Ökonomie“ (Couponschneider...) – mit dem Nahziel des in Geheimverhandlungen formulierten MAI (=Multilaterales Abkommen für Investitionen) steht noch offen, ob die Probleme der Menschheit eines fernen Tages von der lebensfeindlichen Profitgier oder den lebensfreundlichen Träumen der 68er gelöst werden. [...] Werner Koll, Hamburg
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