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Jelzins letzter Mann: Primakow soll Rußland retten

■ Die Duma zwingt den Präsidenten, Tschernomyrdin als Kandidaten zurückzuziehen. Außenminister und Wirtschaftslaie Primakow soll neuer Premier werden

Moskau (dpa/rtz/taz) – Die Duma hat gewonnen: Gestern verabschiedete sich Rußlands Präsident Boris Jelzin von dem designierten Regierungschef Wiktor Tschernomyrdin und schlug den bisherigen Außenminister, Jewgeni Primakow, als Kandidaten für die dritte und letzte Parlamentsabstimmung über den zukünftigen Premierminister vor. Dieser Entscheidung vorausgegangen war ein Gespräch Jelzins mit Tschernomyrdin und Primakow, der noch am Dienstag eine Berufung zum Kabinettschef abgelehnt hatte. Die Abstimmung soll voraussichtlich heute stattfinden.

Mit dem Rückzug Jelzins, der – wohl als Zeichen der Entschlossenheit – schnell noch den Leiter des Sicherheitsrates, Andrej Kokoschin, feuerte, steigen die Chancen auf eine Beilegung der seit längerem schwelenden Regierungskrise. Denn im Gegensatz zu Tschernomyrdin kann sich der 68jährige Primakow der Unterstützung der Mehrheit der Duma-Abgeordneten sicher sein. So pries denn auch der Chef der Kommunisten, Gennadi Sjuganow, die Nominierung als „Sieg der Vernunft“. Primakow sei bereits bei den Gesprächen Jelzins mit der Opposition am runden Tisch vorgeschlagen worden. Er sei in der Lage, die nationalen Interessen Rußlands zu verteidigen.

Der einflußreiche Vorsitzende des Föderationsrats, Jegor Strojew, bezeichnete Primakow als „einzig richtigen Kandidaten. Primakow ist eine Kompromißfigur, die alle Seiten miteinander aussöhnen kann“, sagte Strojew. Er ging davon aus, daß Primakow vom Parlament rasch bestätigt werde. „Wir können uns eine weitere Konfrontation in der Gesellschaft nicht leisten.“ Der Leiter der zentristischen Jabloko-Partei, Grigori Jawlinski, meint, mit Primakow werde die politische Krise in Rußland beigelegt. Erstmals habe Jelzin auf einen Vorschlag von außen reagiert. Jawlinski hatte Primakows Namen in den vergangenen Tagen ins Spiel gebracht. Auch der einflußreiche Unternehmer und Leiter des GUS-Sekretariats, Boris Beresowski, der noch vor wenigen Tagen Stimmung für Tschernomyrdin gemacht hatte, sprach von einer richtigen Entscheidung Jelzins. Allerdings verfügt Primakow über keine wirtschaftliche Sachkenntnis.

Der vor seiner sicheren dritten Niederlage in der Duma zurückgezogene Kandidat Wiktor Tschernomyrdin gab sich verantwortungsbewußt. „Ich kann Rußland keinen Schaden zufügen, dies ist meine Entscheidung“, sagte er und holte gleich zu einem Schlag gegen die Opposition aus. Der gehe es um einen schleichenden Umsturz und die Restauration sowjetischer Verhältnisse. „Es wird weder Rot noch Rosa geben. Diese Farben werden mit Schwarz und Braun übermalt“, prognostizierte er.

Im westlichen Ausland stieß die Ernennung auf positive Reaktionen. Die Bonner Bundesregierung und SPD-Opposition begrüßten die Nominierung von Außenminister Jewgeni Primakow als neuen russischen Ministerpräsidenten. Bundesaußenminister Kinkel sagte, Primakow verdiene Vertrauen. Auch der SPD-Außenpolitiker Günter Verheugen sah eine Chance, daß unter Primakow die unmittelbare Staatskrise überwunden und damit die Voraussetzung für eine Lösung der schweren finanziellen und sozialen Krise geschaffen werden könne. Bundeskanzler Helmut Kohl sparte sich eine Bewertung, ließ aber durch das Kanzleramt mitteilen, Präsident Boris Jelzin habe ihn telefonisch über seinen Vorschlag an die Duma in Moskau informiert.

Frankreich erklärte, die Nominierung Primakows sei eine innere Angelegenheit Rußlands. Ob er das Land aus der Krise führen könne, werde sich erst nach seiner Wahl in der Duma herausstellen, teilte das Außenministerium mit. Der britische Handelsminister Brian Wilson begrüßte die Nominierung Primakows.

Auch die russischen Finanzmärkte reagierten gestern positiv auf die Nominierung Primakows. Die Moskauer Börse legte bis zum Nachmittag 7,5 Prozent zu. Händler begründeten den Kursanstieg mit der Einschätzung, daß mit der jüngsten Wendung zumindest ein Abgleiten Rußlands in politische oder soziale Unruhen abgewendet worden sei. Der Rubel, der am Mittwoch noch bei einem Kurs von 15,77 zum US-Dollar gelegen hatte, wurde gestern nachmittag im elektronischen Interbanken-Handel mit 12,85 Rubel je Dollar getauscht. Tagesthema Seite 3

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