: Auch in anderen Ländern suchen Menschen nach Arbeit
■ betr.: „Manisches Verlangen nach Arbeit“ (Eine antiquierte linke Kapitalismuskritik sowie eine krude Faschismusanalyse beför dern den Aufstieg der nationalen Sozialisten), taz vom 7.9.98
Jürgen Elsässers Text scheint auf den ersten Blick eine sehr fundierte und realitätsnahe Stellungnahme gegen den Faschismus zu sein. Dieser Eindruck kann allerdings einer genaueren Analyse des Textes nicht standhalten.
Zunächst fällt auf, daß sich der Artikel durch eine besondere Unkenntnis der Lebensumstände derjenigen Menschen auszeichnet, über die er schreibt. Jürgen Elsässer schreibt beispielsweise: „Für die proletarischen Protestwähler ist das manische Verlangen nach Arbeit nur eine Chiffrierung von Antisemitismus und Rassismus.“ Die Suche nach einer bezahlten Beschäftigung als „manisches Verlangen nach Arbeit“ zu bezeichnen, ist wahrscheinlich aus der Position eines gutbezahlten Journalisten möglich. Diese Sichtweise geht aber an der Lebenswirklichkeit von vier Millionen Arbeitslosen und ihren Angehörigen sowie der von Arbeitslosigkeit bedrohten Menschen völlig vorbei. Es liegt sicher nicht an der „mythischen Überhöhung der Arbeit“ in der „deutschen Geistesgeschichte“, wenn Menschen eine feste Anstellung suchen, sondern schlicht und einfach daran, daß man Geld benötigt, um sich selbst oder eine Familie zu unterhalten. Zudem entzieht es sich ganz offensichtlich der Kenntnis Elsässers, daß es auch in anderen Ländern, die nicht so sehr durch die „deutsche Geistesgeschichte“ geprägt wurden, beispielsweise in Frankreich und Italien, Menschen gibt, die Arbeit suchen. Daß die Bedeutung eines festen Arbeitsplatzes in der gegenwärtigen Zeit immer größer wird und die Risiken, die Arbeitslosigkeit für den einzelnen bedeuten, bedrohlicher werden, hängt wiederum mit der Entwicklung unseres Wirtschaftssystems zusammen, das aber wiederum für Elsässer sakrosankt ist, das man seiner Meinung nach nicht kritisieren kann, ohne damit gleichzeitig Antisemitismus zu fördern. „Internationales Finanzkapital und Globalisierung – soufflieren die Leitartikel; in der Wallstreet herrscht der Jude – übersetzt der Stammtisch“, meint Elsässer.
Sicherlich gibt es Leute, am Stammtisch und in der Politik, die die Kapitalismuskritik mit Antisemitismus vermischen und die Behauptung aufstellen, Antikapitalismus gebe es nur im Doppelpack zusammen mit Antisemitismus. Ich stimme Elsässer hier insoweit zu, als er sich gegen ein Abgleiten der Kapitalismuskritik in Antisemitismus wendet. Ich gehe aber mit meiner Kritik wesentlich weiter als Elsässer, denn ich denke, daß eine Kritik an wirtschaftlichen Strukturen legitim und notwendig ist und etwas völlig anderes darstellt als eine Polemik gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen. Elsässer schüttet nun einerseits das Kind mit dem Bade aus, da er mit dem Antisemitismus auch gleich alle Kapitalismuskritik auf den Müllhaufen werfen möchte. Andererseits übernimmt er hierdurch implizit die Grundthese, die zu kritisieren er vorgibt, daß nämlich die Frage des Wirtschaftssystems etwas mit dem gesellschaftlichen Zusammenleben von jüdischen und anderen Bürgern zu tun hätte. Daraus zieht er dann die völlig unsinnige Schlußfolgerung, daß man die Polemik gegen „Spekulantentum und Globalisierung“ unterlassen solle, denn diese „ventiliert in den Diskurs der Nazis“. Ich denke (auf die Gefahr hin, alte marxistische Theorien wieder aufzugreifen), daß es genau umgekehrt ist. Ich halte die Anliegen des „Proletariats“, wie der deutsche Bildungsbürger Jürgen Elsässer diejenigen etwas abschätzig nennt, die anders als er nicht das Glück haben, sich ihre Brötchen als freier Journalist verdienen zu dürfen, im Gegensatz zu ihm für sehr berechtigt. Und ich denke, daß faschistische Parteien gerade dann ihre Rattenfängerparolen unters Volk bringen können, wenn die etablierten, gerade die linken Parteien, sich von der ökonomischen Analyse verabschiedet haben und nicht mehr die Interessen des unterprivilegierten Drittels vertreten und einige „Linke“ wie etwa Elsässer sogar explizit gegen die Belange dieser Menschen Stellung nehmen. Dann tritt die paradoxe Situation ein, daß rechtsextreme Parteien fälschlicherweise als die einzig verbliebenen Kritiker des Kapitalismus wahrgenommen werden. Elsässers unbrauchbarer Analyse fehlt es offenbar auch an einer Kenntnis der historischen und aktuellen, nationalen und internationalen Zusammenhänge. Elsässer scheint es beispielsweise in seiner Kritik am „deutschen“ und „antisemititischen“ Antikapitalismus entgangen zu sein, daß es Antikapitalismus auch in anderen Ländern, etwa in Frankreich und Italien, gibt, und daß auch hervorragende jüdische Linke in Vergangenheit und Gegenwart eine maßgebliche Rolle bei der Kapitalismuskritik gespielt haben. Manfred Hübner, Mannheim
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