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Die „Estonia“ bleibt ein Grab

Die schwedische Regierung hat nach jahrelangem Hin und Her entschieden, die Opfer und das Wrack der 1994 verunglückten Fähre nicht zu bergen  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

Das Wrack der im Herbst 1994 gesunkenen Fähre „Estonia“ bleibt letzte Grabstätte der mehr als 750 nicht geborgenen von insgesamt 850 Opfern dieser schwersten Schiffskatastrophe Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Gestern lehnte es die schwedische Regierung endgültig ab, die Toten mitsamt dem Wrack zu bergen, nachdem im vergangenen Monat bereits Finnland und Estland ebenso entschieden hatten.

Die Frage nach einer möglichen Bergung der Opfer war von Schweden wieder auf die Tagesordnung gesetzt worden, nachdem eine Kommission Ende vergangenen Jahres Stockholm diese vorgeschlagen hatte. Die von der Regierung eingesetzte Kommission sollte den Schlußpunkt unter eine lange und schmerzhafte Debatte zu der Frage, ob die „Estonia“ ein Grab sei oder nicht, setzen. Eine Debatte, in der vor allem deshalb so lange keine Entscheidung gefallen ist, weil Schweden in den letzten Jahren zu keiner klaren Position gefunden hatte.

Im ersten Schock der Katastrophe hatten Schwedens PolitikerInnen 1994 eine Bergung nicht nur der Opfer, sondern eine Hebung des gesamten Wracks als „selbstverständlich“ zugesagt. Drei Monate später wurde diese Zusage zurückgenommen: wegen der damit verbundenen technischen Probleme und aus ethischen Gründen. Es könnten nicht alle Opfer geborgen werden, die Identifizierung aller sei nahezu unmöglich; die Belastung für Taucher und MedizinerInnen sei unzumutbar. Außerdem gebe es eine Tradition, das Meer als letzte Ruhestätte für mit Schiffen untergegangene Menschen zu sehen.

Man ging noch einen Schritt weiter und erklärte zusammen mit den Regierungen von Dänemark, Finnland und Estland die fragliche Meeresstelle in 75 Meter Tiefe zum Friedhof. Bereits begonnene Arbeiten, das Wrack der „Estonia“ vollständig mit einem Betonsarg zu überdecken, wurden nach massiven Hinterbliebenenprotesten wieder abgebrochen.

Nachdem Umfragen unter den Hinterbliebenen in Schweden auch jetzt noch eine klare Mehrheit für eine Bergung der Opfer signalisierten, setzte die Regierung eine Kommission ein, die über das weitere Vorgehen entscheiden soll. Deren Vorschlag, das Wrack und die darin befindlichen Leichen zu bergen, stieß nicht nur in Schweden bei Überlebenden der Katastrophe, anderen Hinterbliebenen, die endlich Ruhe für die Opfer wünschen, und Behörden auf Kritik. Auch Estland warf Stockholm vor, alte Wunden wieder aufzureißen. Es fühlte sich dadurch übergangen, daß Schweden überhaupt eine neue Debatte vom Zaun gebrochen habe.

Stockholm nahm zur Begründung seines gestern gefällten Beschlusses auch auf die ablehnende Haltung Estlands und Finnlands Bezug. Diese meinen, Schweden könne diese Angelegenheit nicht im Alleingang entscheiden.

Eine offizielle Umfrage unter den Hinterbliebenen der Opfer zu veranstalten, lehnte die stellvertretende Wirtschaftsministerin Mona Sahlin, in deren Zuständigkeit die „Estonia“-Frage fällt, ab. Das Thema eigne sich nicht einfach für eine Mehrheitsentscheidung. Sie machte klar, daß die Regierung sich bewußt ist, bei einem Teil der Betroffenen Unverständnis und Schmerz auszulösen. Doch das hätte auch für eine umgekehrte Entscheidung gegolten. Sie gestand eine Mitschuld der schwedischen Regierung an der Rechtsunsicherheit bis zum gestrigen Tag ein und bedauerte, daß es vier Jahre, vier Monate und 14 Tage gedauert hat, bis die Hinterbliebenen einen klaren Bescheid erhalten.

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