: Darauf ein(e) Magnum! –betr.: „Ich & mein Magnum“ von Norbert Bolz, taz vom 6./7. 2. 99
Es ist doch beruhigend, daß es bei aller Komplexität und Kontiguität der heutigen Welt immer mal wieder einen Menschen gibt, der (!) sich zutraut, sie zusammenfassend erklären zu können – mit einem Gestus, der in und vor allem zwischen den Zeilen des Textes hauptsächlich über die Selbstverortung des Schreibers Auskunft gibt.
Die Rhetorik des Artikels bestätigt, was der Titel von Norbert Bolz' Buch „Das Ende der Kritik“ nahelegt: eine progressiv-konservative Melancholie und ein fatalistisch, fast polemischer Zukunftspessimismus, der sich damit zufriedengibt, einen Funktionsverlust tradierter Kulturtechniken zu bedauern, anstatt das produktive Potential, das sich in deren Bedeutungsverschiebung eröffnen könnte bzw. bereits eröffnet hat, näher zu beleuchten. Es mag beeindrucken, wenn jemand Name-dropping quer durch die Kulturgeschichte betreibt – in den Druck kam lediglich die variierte Zusammensetzung eines altbekannten Phrasenkonglomerats, das in einer überholten „Denke“ der Dialektik verfangen bleibt. Aber hier wirkt wohl die Idee von einem „Königsweg“ der Gesellschaftsbetrachtung nach, die – bei aller Analyse „der Welt“ – nicht auf die Idee kommt, ihre eigenen Grundannahmen zur Diskussion zu stellen. Gepflegt wird statt dessen ein Ritual des intellektuellen Leidens vor allem als Kompensation dafür, daß mit einem proklamierten „Ende der Kritik“ auch das überkommene Selbstverständnis „der Denkenden“ als Mahner und Besserwisser herausgefordert ist.
Die Gleichsetzung von „Individualisierung“ und „Selbstverwirklichung“ sowie die von „ethnischem Universalismus“ und „Menschheit“ ist nicht nur fragwürdig, sie bestätigt insgeheim eine abendländisch zentrierte, patriarchale Sichtweise, die die Vielschichtigkeit von Machtverhältnisssen ignoriert. Daß zum Beispiel „Identität“ oft genug nicht zwangsläufig „Individualität“ bedeutet, haben verschiedene Diskurse der sogenannten – in Bolz' Artikel höchst unscharf definierten – Postmoderne bereits offensiv thematisiert. Die Gegenüberstellung von „Menschheit“ und „Selbstverwirklichung“ (an sich ein überholter Begriff) wiederholt letztlich in anderen Vokabeln die Frage nach dem Verhältnis von „Gesellschaft“ und „Individuum“, die sich bereits mit dem Konzept des dezentrierten Subjekts grundlegend verschoben hat; jedoch sind dies Begrifflichkeiten – und das ist der eigentliche Punkt –, die immer noch und immer wieder als vermeintlich unhintergehbare Grundkonstanten zueinander ins Verhältnis gesetzt werden.
Gefragt ist ein kritischer Blick auf diese Art intellektueller Selbstinszenierung, die nahe daran ist, sich selbst zu entpolitisieren. Darauf ein(e) Magnum! Kerstin Brandes, Hamburg
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