■ Auf Augenhöhe: Ausnahmezustand auf unbestimmte Zeit
Man hat das „Bauhaus“ hinter sich gelassen, ist am „Pizza-Hut“ vorbei, hat die „Internationalen Möbeleinrichtungen“ begutachtet, die „drospa“-Preishits anerkennend abgeschritten, das „Blumen- Center“, „McPaper & Co“ und den Polizeiabschnitt links liegengelassen, eine Apotheke und einen „Meyer“-Supermarkt passiert – da ist es plötzlich am oberen Ende des Kurfürstendamms aus mit dem Schlendern. Dort, wo die Johann- Georg-Straße abgeht, ist die Welt zu Ende. Völlig unverhofft trifft man auf meterhohen Stacheldraht und Absperrgitter, die für eine weiträumige Umgehung der Ecke sorgen. Die kleine Grünanlage mittendrin fristet ein trauriges Dasein, Bodenklappen von geleerten Papierkörben wehen im Takt mit Absperrbändern. Ein imposantes Räumfahrzeug und jede Menge Polizisten samt ihren Autos runden das martialische Bild ab. Es sieht aus wie im Krieg.
Ganz so, als wären schon die Auslagen geplündert worden, hängt im Schaufenster des Ladens an der Ecke nur ein kleines Pappschild: „Zum Bäcker“. Man hält es kaum für möglich, doch hat man den Korridor aus Absperrgittern passiert, steht man wirklich vor einer Bäckerei. Sieht man den Polizisten mit der Maschinenpistole wenige Meter neben dem Eingang, beschleichen einen Zweifel, ob es dort wirklich nur „voll fruchtige Erdbeerschnitten“ für 2,25 Mark gibt.
Ein Blick über den Bäckerladen bringt Aufklärung. Im ersten Stock sind zwischen Stacheldraht und Überwachungskamera ein Halbmond und ein Stern am Balkon befestigt, das türkische Generalkonsulat. Der Eingang – eine schwere Eisentür – liegt nur wenige Meter neben der Bäckerei. Wer dorthin oder zu den angrenzenden Wohnhäusern will, muß sich ausweisen. Weil seit der Festnahme von Öcalan Anschläge von Kurden befürchtet werden, schieben Polizisten 14-Stunden-Schichten, kontrollieren Ausweise und Autos der Anwohner und sperren hin und wieder die Seitenstraße ab, was für noch größere Aufruhr der Anwohner sorgt.
Eine Verkäuferin aus der Bäckerei: „Man kommt sich wie in einer Festung vor.“ Ein Anwohner, der mehrmals am Tag seinen Kofferraum öffnen muß: „Ich werde doch nicht mein eigenes Haus in die Luft sprengen!“ Selbst ein Polizist räumt ein: „Das ist etwas chaotisch hier.“ Ein für die türkische Sprache beeidigter Dolmetscher, der direkt neben dem Generalkonsulat ein Reisebüro betreibt, beklagt 90 Prozent Umsatzeinbußen. „Vorher kamen die Leute aus dem Konsulat direkt zu mir“, erzählt er. „Jetzt müssen sie sich am Stacheldraht vorbeischlängeln und riskieren, sich die Mäntel kaputtzureißen.“ Für ihn steht fest, daß die Berliner Polizei „Versäumnisse“ beim israelischen Konsulat jetzt mit „Übereifer“ wettmachen will. Ein Mitarbeiter des Konsulats, der sich geübt durch die Absperrungen windet, schildert seine Sicht: „Natürlich beschweren sich die Leute bei uns“, sagt er, „doch die müssen auch wissen, daß das nicht unsere Schuld sein kann.“
Es geht nicht um Schuld oder Unschuld. Es ist ein Ausnahmezustand auf unbestimmte Zeit. Anwohner überlegen, Unterschriften zu sammeln, Gewerbetreibende rennen von Pontius zu Pilatus, um in Erfahrung zu bringen, wer für ihre Einbußen aufkommt: die türkische Regierung, die Polizei, die Internationale Handelskammer, die Kurden, Öcalan?
Nur eins steht jetzt schon fest: Es reicht. Auf einer Litfaßsäule direkt hinter dem Stacheldraht leuchtet ein großes Plakat mit der Aufschrift „Mir reicht's“. Doch dahinter verbirgt sich keine Anwohner-Initiative, sondern eine Werbung der Bild-Zeitung.
Barbara Bollwahn de Paez Casanova
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