: Freie Lieder im Internet
Als MP3-Dateien läßt sich Musik in CD-Qualität ins Internet stellen. Die Musikindustrie kämpft gegen „Piraterie“ ■ Von Ulrich Gutmair
Bis vor kurzem war das Internet vor allem ein mythischer Ort, an dem man nach Belieben seine Utopien endlagern konnte. Die Linke fand hier einen schon für immer verloren geglaubten herrschaftsfreien Raum wieder, während die Liberalen das Netz kurzerhand zum Inbegriff eines globalen Marktes erklärten. Konsequenzen solcher Interpretationstätigkeit waren auf beiden Seiten lange Zeit kaum zu befürchten. Was ein paar Jahre lang nichts als eine Glaubensfrage war, scheint im Augenblick aber zu einem echten Konflikt zu werden, in dem es um die Kontrolle der Kanäle geht – und um eine große Menge Geld.
Das Schlüsselwort des Schismas heißt MP3. Das Kürzel steht für ein digitales Audioformat und klingt 1999 je nach Perspektive so obszön oder vielversprechend wie KPdSU anno 1950. Denn seit im Netz nicht mehr nur Texte und Bilder, sondern auch Audiodateien in akzeptabler Qualität verschoben werden können, stehen globale Märkte zur Disposition. Die klassischen Big Players der Unterhaltungsindustrien sehen sich durch das neue Audioformat verstärkt mit dem fundamentalen Problem des Digitalen konfrontiert: Jede Kopie ist so original wie das Original. Der Vertrieb solcher Dateien wird in Zukunft kaum zu kontrollieren sein.
Während ein CD-Brenner analog zum guten alten Kassettenrekorder immer nur lokal wirksam ist, können mit MP3 nun auch Soundfiles fast in CD-Qualität von jedem ins Netz gestellt und heruntergeladen werden. Digitale Sounds sind nicht nur leicht kopierbar, sondern über das Netz mit einem Klick von hier nach da transportierbar.
Audio-Piraten haben mit MP3 das ultimative Werkzeug an der Hand, während Musiker problemlos ihre eigenen Independent Labels starten können. „A band can become like a broadcaster“, erklärte Public-Enemy-Rapper Chuck D. vor kurzem in einem Interview und formulierte damit die alte Erkenntnis neu, daß im Netz prinzipiell alle Sender und Empfänger gleichermaßen sind. Denn die Idee der temporären autonomen Zone Internet ist ebenso real wie ihre Antithese vom Marktplatz der Zukunft.
Während die Musikindustrie den heimischen Computer als intime Schnittstelle zwischen Netz und Konsument bisher vernachlässigt hat, um statt dessen maßlos überteuerte CDs zu verkaufen, boomt Popmusik in Form von MP3-Dateien inzwischen im Internet. Während die Einführung der CD durch geringere Produktionskosten satte Gewinne für die Vermittler zwischen Musikern und Konsumenten versprach, macht MP3 nun die Vermittlertätigkeit der großen Konzerne prinzipiell obsolet. Wenn Sampling in den Neunzigern zur wichtigsten kulturellen Technik geworden ist, revolutionieren digitale Formate in diesem Augenblick die Distribution.
Public Enemy etwa, selbst Meister des Samplings, bekämpfen nun mit MP3 die Power online. Als die PolyGram letztes Jahr die Veröffentlichung des Remix-Albums „Bring the Noise 2000“ permanent hinausschob, stellte Chuck D. kurzerhand MP3-Dateien der Tracks ins Netz. Auf www.public-enemy.com konnte man sich nun genau das gratis holen, was die Industrie den Fans vorenthielt. Juristisch gesehen sind Public Enemy damit zu Piraten ihrer eigenen Werke geworden.
Die PolyGram-Tracks sind inzwischen zwar wieder vom Netz verschwunden, trotzdem dürfen Public Enemy weiterhin im Bewußtsein leben, an der vordersten antikorporatistischen Front zu stehen. Sie bieten jetzt ihre Single „Swindler's Lust“, eine Tirade gegen die Musikindustrie, zum kostenlosen Download an: „If you don't own the master, the master owns you“, solange dir das Masterband deiner eigenen Aufnahmen nicht gehört, bleibst du ein Sklave. Letztendlich sind die juristischen Eigenschaften von Formaten entscheidender als die technischen, und die wahren Nutznießer solchen Copyrights sind allzuoft eben nicht die Künstler selbst. Die Vertreter der Musikindustrie sind daher für Chuck D. nichts anderes als Pimps – Zuhälter. Das neue Format aber sei das Ende solcher Ausbeutungsverhältnisse: „MP3 is a technology they can't pimp.“
Die „Pimps“ wiederum bleiben angesichts der Bedrohung nicht untätig und schlagen zurück. In den letzten Monaten ließ allein die deutsche Musikindustrie Hunderte von Internetsites schließen, die Raubkopien im MP3-Format angeboten hatten. Dabei geht es vermutlich weniger um den tatsächlichen Schaden als um eine PR-Strategie. In den aktuellen Kämpfen um die Definitionsmacht über das neue Phänomen bringt die Industrie so den Diskurskiller „Piraterie“ in Anschlag. Wenn das nicht funktioniert, werden ein Studio und eine coole Website in Zukunft genügen, um Millionen von Konsumenten direkt zu erreichen.
Die mächtige Recording Industry Association of America (RIAA) installierte mit der Secure Digital Music Initiative (SDMI) daher gleich eine eigene Organisation als Wächterin des „geistigen Eigentums“ der Multinationalen. Wo Text, Bild, Video und Sound im Netz als Binärcode zusammenfließen, findet jene Kategorie des Eigentums erst richtig zu sich selbst, die sich mit dem Adjektiv „geistig“ schmückt. „Geistiges Eigentum“, und das wissen nicht nur die Börsenkurse zu berichten, ist eine Form von Eigentum, die in der digitalen Nährlösung explosionsartig zu expandieren scheint.
Wenn die Idee des geistigen Eigentums im Hinblick auf kulturelle Erzeugnisse noch einleuchtend erscheinen mag, eröffnet sich ihre kategoriale Fragwürdigkeit spätestens dann, wenn menschliche Gene als Erfindungen patentiert werden. Oder mal eben der gesamte Genpool von ein paar hundert Quadratkilometern Amazonas unter dem Banner des „geistigen Eigentums“ privatisiert werden kann.
Analog zu solchen Vorgängen kann man sich fragen, um welches Recht es da eigentlich geht, wenn von Copyright die Rede ist. Gehört Kultur per definitionem nicht allen? Für Richard Stallman, einen Pionier auf dem Gebiet freier Software, hat die Musikindustrie ihren Status als gesellschaftlich notwendige Struktur längst verloren. Während man sie früher brauchte, um möglichst viele Menschen in den Genuß von Musik kommen zu lassen, sei sie inzwischen zu einer Organisation verkommen, der Musiker und Konsumenten gleichermaßen egal seien. Die Musiker, für deren Copyright man angeblich streitet, erhalten üblicherweise solange keine Tantiemen, bis ihre Produkte wirklich Geld einspielen. Die immensen Ausgaben für Marketing, also das Herstellen von Publizität, werden den Musikern dabei als Quasivorschuß berechnet. Sie sind es letztlich, die das Risiko tragen, während die Plattenfirmen auf der sicheren Seite der tatsächlichen Copyright-Besitzer stehen.
Mit der freien Distribution von Musik über das Internet, so Stallman, würde genug Publicity für Bands geschaffen, die damit weit weniger abhängig von den Plattenfirmen seien. Ähnlich wie bei der Frage nach dem kollektiven Erbe der Erbinformation des Ökosystems Regenwald muß der Fokus der Argumentation laut Stallman also nicht auf einer juristischen Ebene geführt werden, sondern auf der Frage gesellschaftlicher Relevanz bestehen.
Gesellschaft interessiert die Monopolisten der Kulturindustrie aber nur als Konglomerat von Zielgruppen. Die SDMI versucht daher mit aller Macht ein neues, kopiergeschütztes Format durchzusetzen, um die Vertriebswege zu remonopolisieren. Das hat der SDMI prompt die heftige Kritik der Electronic Frontier Foundation eingehandelt, einer Lobbyorganisation von Internetunternehmen mit libertärer Hippietradition. Sie glaubt, daß die sicheren Softwareformate im Verbund mit neuer Hardware einen geschlossenen Kreislauf zum Ziel haben, in dem das freie Kopieren von Audiodateien am Ende grundsätzlich nicht mehr möglich sein wird. Am Ende der Entwicklung stünde dann die Auffassung, daß jedes Kopieren einer Audiodatei bereits eine Copyrightverletzung sei. Demgegenüber formuliert die EFF die Auffassung, Audio sei ein primäres Ausdrucksmittel: „ ,Rede‘ ist Audio, und ohne freies Audio hätten wir keine Redefreiheit“, erklärte EFF-Sprecher John Perry Barlow.
Barlow muß es wissen. Der EFF-Sprecher, der daran glaubt, daß Musik uns allen gehört, ist Ex-Mitglied der kalifornischen Hippiekommune Grateful Dead, die ihre Fans immer dazu aufgefordert haben, Bootlegs ihrer Musik zu verbreiten. Und das hat den Grateful Dead offenbar nicht geschadet. Vor wenigen Tagen mußte die RIAA dagegen bereits eine erste Schlappe hinnehmen. Sie verlor einen Prozeß, mit dem sie versucht hatte, die Produktion eines MP3-Walkman zu verbieten. Das unter dem Namen Rio verkaufte Produkt ermöglicht den direkten Download von MP3s in ein portables Gerät. Rio sei ein „Aufnahmegerät“, hatte die RIAA vergeblich behauptet.
Mit der Einführung von portablen Kassettenrecordern auf dem Unterhaltungsmarkt sah sich die Industrie in den frühen Achtzigern schon einmal genötigt, ihren moralischen Zeigefinger gegen den ausufernden Gebrauch von solchen gefährlichen Vervielfältigungsgeräten zu richten. Und druckte die Warnung „Home taping is killing music“ auf die Innenhüllen von Schallplatten.
Aber schließlich war Punk, und irgendein intelligenter Mensch gab die Parole aus: „Home taping is killing the music industry, keep up the good work!“ Ende 1999 kann man „home taping“ getrost durch „MP3“ ersetzen. Diesmal ist die Option real.
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