Ohrengeiselnahme im ICE  ■   Von Wiglaf Droste

Der Mann im ICE von Berlin nach Stuttgart ist äußerlich ganz unscheinbar. Das hat man oft, daß die Bestie sich harmlos gibt. Er hat einen Vierertisch okkupiert und sich so breitbeinig hingesetzt, daß man durch die Hose seine Sacknaht sehen kann. Das heißt, man könnte seine Sacknaht sehen, wenn nicht seine rechte Hand auf seinem Sack läge. Und daran kratzte. Hin und wieder hebt er die Hand vors Gesicht und betrachtet interessiert seine Fingernägel. Einmal schnüffelt er auch an ihnen und scheint mit dem Ergebnis ebenfalls nicht unzufrieden zu sein. Dann kratzt er sich wieder. Kratz kratz kratz. Bis am Ende womöglich gar kein Sack mehr da ist. Das wäre, zumindest in seinem Fall, unbedingt ein Fortschritt.

Doch der ist nicht in Sicht, nirgends. Kratz kratz kratz. Es ist zum Fundamentalistischwerden. Man hat nur noch einen Gedanken: Islam her, Hände ab!

Der Mann ist ein anatomisches Wunder. Sein Gehirn ist sogar noch kleiner als sein Schwanz. Umgekehrt gilt der Satz aber auch.

Mit dem Daumen der linken Hand drückt der Mann auf seinem Handy herum und brüllt anschließend hinein. Meistens brüllt er: „Hallo! ... Hallo! ... Hallo!“ Manchmal aber auch – er spricht mit starkem russischem Akzent – „Vierrtausänd Makk! Hundärrt Quadrattmättärr! Brauch ich Auto! Kannst du mir gäbbän?“ und ähnliche Dinge, die eindeutige Rückschlüsse auf ein veritables Halsabschneiderleben zulassen. Die Gespräche dauern im Schnitt eine Minute, es folgt eine winzige Pause, in der eine neue Nummer gedrückt wird, und dann geht die Sache von vorne los: „Hallo! ... Hallo! ... Hallo!“ Nach dem siebten „Hallo! ... Hallo!“ in zehn Minuten beginnen einige der Reisenden, die er, wie alle im Großraumabteil, zu Ohrengeiseln gemacht und zur Zuhörerschaft verurteilt hat, zu kichern; irgendwann lachen sie laut und äffen den Mann nach: „Hallo! ... Hallo! ... Hallo!“

Es ficht ihn nicht. Er macht weiter, stur wie ein Panzer. „Hallo! ... Hallo! Guttäs Objäkt! Schönnä Immobilljä!“ Drei Stunden geht das, und nie geht ihm die Puste aus. Drei Stunden lang brüllt er in sein Handy hinein, manchmal auch auf russisch, aber der Glaube, er brülle dann vielleicht etwas Intelligenteres, ist doch stark erschüttert. Außerdem ist es egal. Selbst wenn einer am Telefon so etwas Zauberhaftes wie das Liebesleben der Kolibris erklärte, würde es nicht besser, solange er brüllt. Das Zauberwort heißt leise. Und es tut auch nichts zur Sache, daß der Mann Russe ist. Wenn es irgendeine Internationale Solidarität gibt, dann ist es die der Arschgesichter. Wer deutsch brüllt, wird dadurch nicht weniger eklig. Aber dieser Mann brüllt nun mal russisch. Beziehungsweise „Hallo! ... Hallo! ... Hallo!“

In Frankfurt am Main, wo Quälköpfe wie er zu Tausenden im Reagenzglas hergestellt werden, steigt der Mann aus. Der erleichterte Applaus der verbliebenen Fahrgäste begleitet ihn. Nicht einmal das kriegt er mit. Und das Betrüblichste ist: Als er auf den Bahnsteig tritt, fällt kein 16-Tonnen-Gewicht auf ihn herunter. Dabei hat Monty Python's Flying Circus dieses nützliche Gerät doch genau für Leute wie ihn erfunden. Aber es fällt nicht. Es ist niemand da draußen, der sich um uns kümmert. Die Menschheit ist verlassen. Das Universum ist leer. Wir sind allein.