: Experimenteller Arbeitsplatz
Alle Uhren stehen auf zehn vor zehn: Torsten Haake-Brandt befreit die Zeit aus Zwängen der sozialen Regelwerke. Die Museumsakademie zeigt seine Vortragsinstallation Geustermor ■ Von Oliver Koerner von Gustorf
Die gelangweilte Heldin in Lewis Carrolls „Alice in Wonderland“ folgt einem sprechenden weißen Kaninchen, das gehetzt eine Taschenuhr zückt und in seinem Bau verschwindet. Alles beginnt mit dem Sturz in dieses Erdloch, durch das Alice ins Bodenlose fällt und eine Welt voller Nonsens entdeckt, in der Logik und Kausalität keine Rolle mehr zu spielen scheinen.
Geustermor ist ein nachkonzeptionelles Wunderland voller Nicht-Sinn und Nicht-Zeit, dessen Name sich aus der Summe von Gestern, Heute und Morgen ergibt. Ursprünglich dazu konzipiert, den Rahmen für eine Vortrags- und Performancereihe zum Zeitbegriff zu bilden, bleibt die Installation des in Berlin und Hamburg lebenden Künstlers Torsten Haake-Brandt in der Museumsakademie zum ersten Mal mehrere Wochen bestehen.
Geustermor gleicht einem experimentellen Arbeitsplatz: Ein Gewirr aus privaten Fotos, Zeichnungen, Zeitungsausrissen pflastert die Wände. Inmitten eines Arsenals aus Fundstücken, Ordnern und Ersatzteilen erscheinen Vitrinen, Absperrungen und Podeste als museale Reminiszenzen einer Inzenierung, in der sich die Grenzen zwischen Skulptur und Rauminstallation auflösen. Immer wieder tauchen mit Klebeband fixierte Schilder auf: „FrauenbOxen ist heute Out“, „Löcher bOhren und kOkeln“, „Für diese vOllen Taschen hätte ich gerne 72OOO Mark Oder sO.“
Löcher, Kreise, Nullen und Kringel in allen erdenklichen Formen perforieren die Installation. Als Kugelschreiberlinien und Brandlöcher drücken sie sich durch Papier und Plastik, durchbohren Pressspan und Baulatten. Tatsächlich funktionieren sie, vergleichbar mit dem Loch des weißen Kaninchens, wie sinnliche und theoretische Zugänge zu Haake-Brandts Universum, in dem Zeit und Arbeit als ständige Wiederholung ihrer selbst erlebt werden.
Bereits Anfang der Neunzigerjahre begann sich Haake-Brandt ohne jede erlernte Berufskenntnis auf Stellenannoncen zu bewerben: als Theaterintendant, Müllmann, Arzt. Das Ergebnis war eine Flut von Ablehnungsschreiben, die Haake-Brandt 1992 in der Ausstellung „Umgraben“ präsentierte. Er bezeichnete seine Aktion als durch „Unzufriedenheit und Langeweile entstandene Form der grenzüberschreitenden Mitteilung“.
Langeweile gab auch den Ausschlag für die spätere mechanische Produktion von unzähligen Blättern, die Haake-Brandt als Nachtwächter in einem großen Hotel mit Kringeln voll kritzelte. In die Selbstständigkeit entlassen, legte er sich weitere unsinnig anmutende Arbeiten auf. Präzise acht Stunden am Tag widmete er sich Geustermor-Disziplinen, schüttelte Nudeln, tätowierte Suppenhühner, rührte Wasser, kaute auf Fotos Heugabeln, Glühbirnen, Haarbürsten und Vogelhäuschen.
Geustermor zeigt neben Videos, die seinen Arbeitsbegriff dokumentieren, auch die entstandenen Produktionsgüter, denen Haake-Brandt als Ergebnis seiner Arbeit einen gewissen Zeit-Wert zumisst. „Je öfter ich es tue, desto wertvoller ist das Produkt.“ Nicht irgendeine Qualität, sondern ausschließlich die Masse der Wiederholungen bestimmt den Wert seiner Arbeit. Monotonie ist im Geustermor der einzige Maßstab. Haake-Brandt funktioniert als menschliche Fabrik, deren vorrangige Aufgabe darin besteht, alle Zeit zur gleichmäßigen Produktionszeit zu machen.
In Werbekampagnen und Schaufenstern stehen die Uhren fast immer auf zehn nach zehn, weil die Zeigerstellung vom Konsumenten als ansprechend empfunden wird. Für Haake-Brandt ist dieser Stillstand harmonisches Sinnbild einer Null-Zeit, die sich von den Zwängen sozialer Regelwerke befreit hat.
Geustermor sabotiert den Eindruck kollektiver Gleichzeitigkeit. Es ist ein Kosmos, in dem die singuläre Ausdauer des menschlichen Körpers alleiniges Zeitmessinstrument ist. Wenn Haake-Brandt die Nummernschilder vorbeifahrender Autos vorsingt oder durch einen kreisrunden Teebeutelhalter filmt, hebelt er die Kräfte aus, die unsere Zeit verwalten. Seine Kunstproduktion erledigt das, indem sie den herrschenden Zeitbegriff ästhetisch annulliert: „1 Null ist 1 Loch ist 1 Nulloch“ – der Titel einer kleineren Arbeit liest sich wie eine Gleichung. Haake-Brandts Löcher, Siebe und Kringel sind nicht nur Methapher ewiger Wiederholung, sondern ebenso relativierende Messinstrumente, die der „Wirklichkeit“ wie in einer Versuchsanordnung entgegengestellt werden.
Zu dieser Anordnung gehört auch die fremde Kunstproduktion. „I lOve Thomas HirschhOrn“, „I lOve Martin Kippenberger“ „I lOve Richard Long“. Immer wieder betont Haake-Brandt seine Liebe zu anderen Künstlern. Inspiriert von ihren Arbeiten, schafft er von Nullen und Kreisen durchzogene Geustermorkunst, die rudimentär an die Orginalarbeiten erinnert, aber vor allem ein Ziel hat: ihre Entwertung in der ständigen Reproduktion zeitloser Klassiker. Darin besteht sein Liebesdienst.
Bis 15. 1. 2000, Di – Sa 14 – 19 Uhr, Museumsakademie, Rosenthaler Straße 39
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