Der rasende Rentner von Stoke

DIE SPIELER DES JAHRHUNDERTS. FOLGE 2: DIE 40ER-JAHRE – Stanley Matthews, der König der Finte, peinigte 35 Jahre lang die Verteidiger, bis er mit 50 abdankte    ■ Von Manfred Kriener

Das Bild ging um die Welt. 1965 war's. Die Torwartlegende Lew Jaschin und der große Ungar Ferenc Puskas schultern einen alten Mann und tragen ihn vom Rasen des „Victoria Ground“. Der alte Mann weint. Was das Foto nicht zeigt: Mit ihm weint das ganze Stadion, selten wurde ein Fußballgrün intensiver gewässert. Selbst der coole Kölner Karl-Heinz Schnellinger hat feuchte Augen. Dann stimmt die Menge den „Jolly good fellow“ an, und der gute Kumpel verschwindet für immer im dunklen Kabinengang. Der alte Mann ist 50 Jahre alt. Sein Name: Stanley Matthews, Rechtsaußen, Dribbelkönig, rasender Rentner. Soeben hat er nach 35 Jahren Profifußball im Blitzlichtgewitter die Kickstiefel ausgezogen und an den Nagel gehängt. Nie wieder hat ein irdischer Fußballer so lange so gut gespielt.

Mit 16 Jahren stand Stan zum ersten Mal in der Reservemannschaft von Stoke City. Der etatmäßige Rechtsaußen war krank, und der Trainer erinnerte sich an den schmalbrüstigen Laufburschen mit den kleinen Füßen, der immer so schnell davonwetzte. Stan, der aussah, als sei er soeben erst dem Sandkasten enthüpft, zeigte sofort sein Talent und empfahl sich für größere Aufgaben. Stoke City hatte eine echte Perle entdeckt. 1932, an Stanley Matthews 17. Geburtstag, unterschrieb der Prototyp des Flügelflitzers seinen ersten Vertrag. Sein Vater, ein boxender Friseur, hatte einen Wochenlohn von fünf Pfund ausgehandelt. Für jeden Sieg gab es ein Pfund drauf.

Papa Matthews wollte eigentlich einen Boxer aus ihm machen. Jeden Morgen um sechs quälte er Stan vor dem geöffneten Fenster mit Kniebeugen, Liegestützen und Gymnastik. Doch Hänfling blieb Hänfling. Der Vater kapitulierte, Stan ging zum Fußball, wurde der jüngste, später der älteste Profikicker auf der Insel. 1934 gab er, mit 19 Jahren, sein Debüt in der Nationalelf. Ende der 30er-, spätestens in den 40er-Jahren war er der beste Rechtsaußen der Welt. Er ist es bis heute geblieben.

Wenn die angegraute Fußballphilosophie des Flügel-Spiels je ihre Berechtigung hatte, dann zu den glorreichen Zeiten dieses Hexenmeisters an der Außenlinie. Matthews war der geniale Zuschneider und Vorbereiter. Sein Geheimnis: Geschmeidigkeit und Schnelligkeit. Der Daily Express: „Er liebt es, seine Gegner zu narren, sie mit seinen Dribblings zu verwirren. Es ist unsinnig, ihn mit den Schultern rempeln zu wollen, denn sein Reichtum an Finten ist unvergleichlich. Er beherrscht seinen Körper in jeder Bewegungsphase. Seine täuschenden Schwünge sind einmalig.“

Die Verteidiger-Legende Werner Kohlmeyer weiß, wovon die Rede ist. 1954, Deutschland war in Bern gerade Weltmeister geworden, wurde der Lauterer in Wembley von Matthews derart vorgeführt, dass er am liebsten maulwurfgleich unter der Rasendecke verschwunden wäre. Kohlmeyer wurde zum Tanzbären, düpiert von einem 39-jährigen Oldie, der noch lange nicht ans Aufhören dachte. England gewann 3:1. Der als „geizig“, „eigenwillig“ und „kleinlich“ geziehene Stan war wieder einmal der beste Mann auf dem Platz.

Die scheinbar simple Finte – links antäuschen, rechts vorbeigehen – wurde nach ihm benannt: der berühmte Stanley-Matthews-Trick. In Wahrheit war dies keine neue Entdeckung oder gar Erfindung des Mannes, der Europas erster „Fußballer des Jahres“ wurde. Neu waren nur die Eleganz und Perfektion, mit der Matthews diesen im Grunde einfältigen Trick beherrschte. Und: „Sobald er an einem Verteidiger vorbei war, hat ihn niemand mehr eingeholt“, erinnern sich die Chronisten.

1947 wechselte Matthews nach clubinternen Streitereien zum FC Blackpool. Dort gewann er 1953 zum ersten Mal das Cupfinale. Matthews Trickkiste hat viele Spiele entschieden, dieses Finale gegen die Bolton Wanderers war eines seiner besten. 22 Minuten vor Schluss lag sein Team mit 1:3 zurück, dann bot der damals 38-jährige an der Außenlinie die ganz große Show: Dribbling, Flanke, Tor – Dribbling, Foul, Elfmeter, Tor – Dribbling, Flanke, Tor. Blackpool gewann 4:3, das entscheidende Tor fiel zehn Sekunden vor dem Abpfiff. England küsste Matthews die Stiefel.

1963 kehrte er als 48jähriger zu Stoke City zurück und schaffte den Aufstieg in die erste Liga. Am 1.Januar 1965 wurde er von der Queen geadelt, vier Monate später gab er sein tränenreiches „Farewell“ gegen die Weltelf mit Jaschin, di Stefano, Kubala, Puskas, Masopust und Schnellinger.

Am nächsten Tag erschienen Sonderdrucke des englischen Wappens. Einer der drei Löwen fehlte darauf. Lange lebte Matthews in einem grauen Reihenhaus in Blackpool. Reporter, die ihn in den 80ern besuchten, fanden einen hageren alten Mann, der viel Tee trinkt, wenig isst und Whisky verabscheut. Und wenn er abends den Fernseher einschaltet, dann, so geht die Legende, täuscht er links an und drückt rechts blitzartig auf den Knopf.

Bislang von taz-Experten gekürt:

00er Jahre:

10er Jahre: Adolf Jäger (1.12.99)

20er Jahre:

30er Jahre:

40er Jahre: Stanley Matthews (3.12.99)

50er Jahre:

60er Jahre:

70er Jahre:

80er Jahre:

90er Jahre: