ADRIENNE WOLTERSDORF über OVERSEAS : Splitternackte Tatsachen
Warum die Frau in den USA weit weniger „befreit“ ist, als wir alle gerne glauben wollen
Hallo, alle Weltverbesserer und Frauen-Verteidigerinnen, alle mal in die andere Richtung gucken! Nach all den Monaten, die ich nun schon in Washington lebe und das Treiben hier beobachte, glaube ich, dass es uns weniger um die Burka-tragenden, verschleierten und keinen Führerschein machen dürfenden Frauen in den muslimischen Wüsten dieser Welt zu tun sein sollte. Nein, es ist die US-Frau, die dringend befreit werden muss.
Waaas, im Mutterland des Feminismus? Just dort, wo Frauen so dicke Autos fahren und genauso für Kriege und Präventivschläge sein dürfen wie ihre Kerle, liegt einiges im Argen mit dem schwachen Geschlecht.
Anke, eine deutsche Freundin, die gerne nach der stressigen Arbeit bei einem hiesigen Unternehmen abends Balance und Muskelschmerz beim Yoga sucht, erzählte neulich, wie sie sich kürzlich vor ihrer ersten Yogastunde völlig unmöglich gemacht hat. Sie hatte sich direkt vom Büro auf zum Studio gemacht, wo sie sich ihres Rechtsanwältinnen-Powersuits entledigen und die Yoga-Klamotten anziehen wollte. Doch keine Umkleidekabine war zu finden. Auf ihre Frage, wo sich denn alle umziehen würden, entsetztes Staunen. Umziehen? Etwa Kleider ausziehen? „No“, das mache keine. Tatsächlich streiften die anderen Frauen lediglich ihre Hosen ab, worunter sie schon andernorts das Yoga-Outfit gezogen hatten. Anke blieb nichts anderes übrig, als sich im engen Damenklo zu entblättern, was ihr aber offenbar schon mal drei Minuspunkte im US-Nirvana eingebracht hatte. Der sonst übliche Höflichkeitssmalltalk entfiel zunächst.
Ganz zu schweigen von den Gepflogenheiten in den lokalen Saunabetrieben. Allein das Wort Sauna scheint bereits Assoziationen mit dem Fegefeuer auszulösen, weshalb solche Einrichtungen gemeinhin „Spa“ heißen, obgleich sie nichts von der Weitläufigkeit des belgischen Kurortes haben und eher erweiterten Kosmetiksalons gleichen.
Jedenfalls haben meine amerikanischen Freundinnen bei meiner kleinen Umfrage unabhängig voneinander ausnahmslos angegeben, dass sie sich höchstens im Badeanzug und mit Jogginghose in eine Sauna setzen würden – allerdings auch nur am Frauentag. Diese Freundinnen sind keineswegs auf dem Weg zur Ordination in ein Nonnenkloster, im Gegenteil.
Obgleich es gerade ein „Trend“ zu sein scheint, dass US-Karrierefrauen ihre vielversprechenden Jobs in Rechtsanwaltskanzleien und Immobilienimperien aufgeben, um der Stimme Gottes zu folgen. Man findet sie kurze Zeit später in der Bronx beim Ausschenken von Suppen an Arme und selig die frohe Botschaft verbreitend.
Jedenfalls ist das Nacktsein in diesem Land etwas so Unerhörtes, dass ich mich ernsthaft frage, ob es in den USA – neben einer Friedensbewegung – nicht auch eine fröhliche FKK-Bewegung braucht. Ein Gang zum Arzt wird unter diesen Umständen zur Papierschlacht. Jedem Arzt sein Wegwerf-Kittelchen.
Beim Orthopäden gibt es zum Beispiel ein blaues Röckchen mit Seitenschlitzen, das sich Partientinnen bis unter die Achseln hochziehen, damit der Arzt zwar das Schultergelenk, nicht aber den BH angucken kann. Beim Allgemeinarzt gibt es, naturgemäß ganz unspezifisch, ein langes Papiernachthemd mit Schlitzen hinten und vorn, durch die diskret das Stethoskop geschoben werden kann, ohne dass der Arzt auch nur erraten kann, wie es drunter so ausschaut.
Bei der Frauenärztin wird es zweiteilig. Ein nach vorne aufklappbares Papierjäckchen, unter dem die Ärztin auf der Suche nach der Brust geht. Und für „untenrum“ eine Papierdecke, die nur so weit zurückgekrempelt wird, bis der Untersuchungsgegenstand erreicht ist. „Ach, den amerikanischen Frauen ist ihr Körper völlig fremd“, sagte meine Ärztin, als ich verwundert mit der Papierdecke hantierte. Das muss es sein, dachte ich. Nur so kann ich mir erklären, dass die Amerikanerin angezogen in der Sauna sitzt, aber im winterlichen Washington oben mit Ohrenwärmern und Pelzmantel und unten in Flipflops und bloßen Füßen ausgeht.
Fotohinweis: ADRIENNE WOLTERSDORF OVERSEAS Fragen zum Körper? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN